Die Wirklichkeit hat viel Sinn für Ironie. Als ÖVP und Grünen im Jahr 2002 zum ersten Mal über eine Koalition verhandelten, ließ sich der damalige Grünen-Chef Alexander Van der Bellen zu der flapsigen Bemerkung hinreißen, dass sich seine Partei „nicht mit dem Sportministerium abspeisen lassen“ werde. Der konservativ-ökologische Flirt scheiterte damals, 18 Jahre später lobte Van der Bellen als Bundespräsident seinen ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Werner Kogler als Vizekanzler an – und als Sportminister.

Dass speziell der Fußball dem grünen Parteichef ein echtes Anliegen ist, kann man daran erkennen, dass Kogler, wenn es die Zeit erlaubt, sogar Live-Übertragungen der Conference-League in einem Wiener Café verfolgt. Auf dem grünen Bundeskongress in der Vorwoche widmete er die Einleitung seiner Rede der Nationalelf, die tags zuvor ihr zweites EM-Spiel gegen Polen gewonnen hatte. Kogler fügte an: „Seit wir Sportminister sind, wird überhaupt viel mehr gewonnen.“

Von einem detaillierten Faktencheck wird hier abgesehen, da es sich erstens um einen Scherz handelte und zweitens die erfolgreichen Winterspiele 2022 in Peking, der Tour-Etappensieg von Felix Gall sowie die Sensationen des Fußball-, Handball- und Eishockey-Teams nichts mit der aktuellen Sportpolitik zu tun haben. Ein klarer Fall von Korrelation, nicht Kausalität.

Regierung setzte in der Sportpolitik wenig um

Sonderlich umtriebig war Türkis-Grün beim Sport nicht. Der Großteil dessen, was sich die Regierung in ihr Arbeitsprogramm geschrieben hat, harrt noch einer Umsetzung. Das gilt zum Beispiel für das geplante Berufssportgesetz, ein Sportstättenkonzept und die tägliche Bewegungseinheit für Kinder. Bis Herbst wird das knapp.

Die Sportverbände sind an solche Säumigkeiten leidvoll gewöhnt. Das Berufssportgesetz ist seit mehr als 20 Jahren ein Thema, die tägliche Turnstunde seit mehr als 100. Das hinderte die Politik freilich nie daran, im Moment des großen Sieges die Nähe zu Sportlern zu suchen – weltweit. Angela Merkel galt Zeit ihrer Kanzlerschaft als Edelfan der deutschen Nationalmannschaft, ihr frenetischer Jubel und ihre Besuche in der Kabine wurden Dutzende Male abgelichtet.

Angela Merkels Jubel war legendär
Angela Merkels Jubel war legendär © AP / Gero Breloer

Als Kanzler Karl Nehammer und Kogler nach dem 3:2 gegen die Niederlande die Merkel machten und ebenfalls die Kabine der Spieler aufsuchten, musste der Fotograf draußen bleiben. Dafür entstand das Werk „Selfie mit Mannschaft und Kogler“ in Eigenproduktion Nehammers. Es ist jetzt schon ein Klassiker.

Nehammers Foto: „Selfie mit Mannschaft und Kogler“
Nehammers Foto: „Selfie mit Mannschaft und Kogler“ © APA / Bka

Während der Amtszeit Merkels hatten sich Medien immer wieder damit beschäftigt, ob sich Erfolge des Fußballteams auch auf ihre Umfragen niederschlagen. In der Tat waren Merkels Zustimmungswerte rund um den WM-Sieg 2014 sehr hoch und nach der Blamage 2018 niedrig. Ob deshalb die türkis-grüne Regierungsspitze zur EM nach Berlin pilgerte?

Die wissenschaftliche Literatur deutet eher darauf hin, dass es sich – auch hier – um einen Fall von Korrelation und nicht Kausalität handelt. Studien fanden, dass zwar die Ausrichtung von Großereignissen die nationale Zufriedenheit erhöht und dadurch indirekt Regierende unterstützt werden, bei Sporterfolgen war dieser Effekt aber nicht nachweisbar. Beispiel Argentinien: Nach Dekaden der Enttäuschungen holte das fußballverrückte Land 2021 den Copa-, 2022 sogar den WM-Titel, doch die regierenden Peronisten wurden ab- und Radikalreformer Javier Milei gewählt.

Schüttere Sportinfrastruktur

Stärker ist der umgekehrte Zusammenhang: In politisch stabilen (und wohlhabenden) Ländern, die in die Sportinfrastruktur investieren, sind Erfolge wahrscheinlicher. Darauf könnte Nehammer im Herbst verweisen, er hatte in seinem „Österreichplan“ ein neues Nationalstadion in Aussicht gestellt, das auch Teamchef Ralf Rangnick fordert.

Analysiert man aber die Errichtungskosten jüngerer Arenen in Europa, preist die Inflationsentwicklung sowie die Lohnkosten in Österreich ein, wird man nicht weit von einer Milliarde Euro entfernt sein. In Zeiten budgetärer Sparzwänge ein schwieriges Unterfangen. Der Bedarf anderer Sportinfrastruktur ist außerdem größer: Österreich hat keine Radbahn mehr, kaum 50-Meter-Schwimmbecken und West Wien musste als Handball-Meister mangels Halle im Vorjahr seinen Profibetrieb einstellen. Österreich hätte ein Sportstättenkonzept bitter nötig, dürfte im Wahlkampf aber wohl nur eine Nationalstadiondebatte bekommen.

Andreas Babler, Fan von St. Pauli
Andreas Babler, Fan von St. Pauli © SPÖ/Clemens Schmiedbauer

Wobei SPÖ-Chef Andreas Babler, Fan von Rapid, Sportklub und St. Pauli, den Sport für den Wahlkampf entdeckt hat. Er reklamierte Bundesligapartien sowie wichtige EM- und WM-Spiele für das Free-TV und legte eine Petition auf. Er griff damit aber nur eine Idee von Türkis-Blau auf, die dem Ibiza-Video zum Opfer gefallen war. In Argentinien hatte 2009 übrigens die Regierung die Übertragungsrechte der Liga gleich selbst gekauft. So weit geht Babler nicht.

Am Dienstag wird Österreich in Leipzig das Achtelfinale gegen die Türkei bestreiten, Nehammer und Kogler werden wieder dabei sein. Die ÖVP hat deshalb einen an dem Tag geplanten „Medienheurigen“ verschoben. Die Grünen, die ebenfalls für diesen Tag zu einem Plausch zwischen Politik und Journalisten einladen, blieben dagegen bei dem Termin – und bieten Public View­ing an.