Asylanträge sollen künftig nur mehr an den EU-Außengrenzen abgehandelt werden. Das ist der Kern der Reform des Asylsystems, die am Mittwoch im EU-Parlament abgesegnet wurde. Ziel sei es vor allem, die irreguläre Migration vom Mittelmeer aus gen Norden einzudämmen.

„Es ist eine gute Intention, das Sterben im Mittelmeer und entlang der Balkanroute damit beenden zu wollen“, betonte Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der WU Wien, Mittwochabend in der ZiB2 im ORF. Als zukunftsweisend oder gar historischen Erfolg, wie die Reform vom EU-Parlament angepriesen wurde, würde sie die Änderungen aber nicht bezeichnen.

Zentrale Fragen, die das aktuelle System aufwirft, würden wieder nicht beantwortet werden. „Wie kann man Rückführungen forcieren, wenn man mit den Herkunftsländern nicht gesprochen hat? Wie kann der Druck fairer verteilt werden? Und vor allem, wie kann man die Politik des Sterbenlassens an den Außengrenzen beenden?“, zählte Kohlenberger die offenen Fragen auf.

Migranten lassen sich nicht abschrecken

Die Migrationsforscherin befürchtet vor allem, dass die Maßnahmen zu spät ansetzen – nämlich dann, wenn die Migranten bereits vor den Toren Europas schippern. Sie hätten zu diesem Zeitpunkt bereits derart viel Geld und Energie investiert, dass diese Verschärfung des Rechts „keine abschreckende beziehungsweise demotivierende Wirkung“ mehr hätte.

ZiB2-Anchorman Armin Wolf konterte, dass es logisch sei, dass es keine abschreckende Wirkung mehr für jene Personen gäbe, die bereits auf dem Weg sind. Wenn jedoch klar wäre, dass Arbeit in Europa ein legitimes Anliegen, aber eben kein Recht und damit auch kein Asylgrund sei, könne dies sehr wohl Personen hindern, die Reise anzutreten.

„Vor allem in Ländern südlich der Sahara gibt es einen Wahlspruch: Europa oder der Tod“, hielt Kohlenberger dagegen. „Das beschreibt die absolute Perspektivlosigkeit, die vor allem junge Menschen in diesen Ländern verspüren.“

Individuelle Regelung keine gute Idee

Migranten, die in Europa arbeiten wollen, gehören laut Kohlenberger nicht in das europäische Asylsystem, wie es momentan ist. Sie würden reguläre Zugangsmöglichkeiten benötigen. „Diese Reform lässt leider außer Acht, Alternativen für Menschen zu schaffen, die als Arbeitskräfte benötigt werden, aber keine Chance auf ein schnelles Visa-Verfahren haben“, meinte die Migrationsforscherin.

Dass die europäischen Nationalstaaten beziehungsweise gar einzelne Bundesländer oder Regionen dies individuell regeln, hält Kohlenberger für keine gute Idee. Dieser „Fleckerlteppich“ würde Konkurrenzsituationen schaffen, in denen um die Arbeitskräfte gestritten wird.

Video: Die Eckpunkte des Asyl-Pakts

Generell wäre es wichtig, das Thema nicht nur durch die Sicherheitsbrille zu betrachten. „Wir dürfen nicht nur auf die Defizite und Herausforderungen achten, sondern müssen auch die Frage stellen: Wie können europäische Mitgliedstaaten von geregelter Migration profitieren?“, sagte Kohlenberger. Denn es bahnt sich eine große „demografische Krise an“, der man Herr werden muss.

Von jeder Fluchtbewegung „überrascht“

Gleichzeitig dürfen nicht jene Bevölkerungsgruppen außer Acht gelassen werden, die aufgrund von Verfolgung und Krieg flüchten. Wie Europa mit diesen Schutzsuchenden umgehen solle, wisse es noch immer nicht – und das mittlerweile fast zehn Jahre nach der großen Flüchtlingswelle 2015, kritisierte Kohlenberger.

Auf genaue Zahlen, wie viele Flüchtlinge Europa verträgt, wollte sie sich nicht festlegen, jedoch betonte sie: „Es ist wichtig, dass wir resiliente Systeme aufbauen. Wir sind bei jeder Fluchtbewegung so überrascht, als würde es das erste Mal passieren.“