Die Grünen in Deutschland ziehen personelle Konsequenzen aus ihrer Serie von Wahlniederlagen und bauen die Parteiführung um. Die beiden Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour kündigten am Mittwoch ihren Rückzug von der Parteispitze an. „Wir sind zum Ergebnis gekommen: Es braucht einen Neustart“, sagte Nouripour am Mittwoch in Berlin. „Das Wahlergebnis am Sonntag in Brandenburg ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“, betonte Nouripour.
Kommentar
„Partei aus der Krise führen“
Es brauche nun „neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen“, sagte Ko-Parteichefin Ricarda Lang. Die Wahl eines neuen Vorstands solle ein „Baustein sein für die strategische Neuaufstellung dieser Partei“. Lang fügte hinzu: „Jetzt ist nicht die Zeit, um am Stuhl zu kleben - jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen, und wir übernehmen diese Verantwortung, indem wir einen Neustart ermöglichen.“
Dem bisherigen Grünen-Vorstand gehören neben Lang und Nouripour noch die stellvertretenden Parteivorsitzenden Pegah Edalatian und Heiko Knopf, Geschäftsführerin Emily Büning und Bundesschatzmeister Frederic Carpenter an. Nach Langs Angaben soll der Vorstand noch bis zur Neuwahl auf dem Parteitag im Amt bleiben.
Nachfolge offen
Lang und Nouripour führen die Partei seit Anfang 2022. Regulär wären sie mindestens bis Ende 2024 im Amt. Sie äußerten sich nicht zu ihrer Nachfolge. Im Gespräch dafür sind nach Medienberichten Wirtschaftsstaatssekretärin Franziska Brantner und der Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak. Brantner ist eine enge Vertraute von Wirtschaftsminister Robert Habeck, der die Grünen als Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl führen könnte. Banaszak war früher Parteichef der Grünen in Nordrhein-Westfalen und ist ein wichtiger Drahtzieher des linken Flügels.
Habeck: „Schritt zeugt von Stärke und Weitsicht“
Der deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck bezeichnete den angekündigten Rücktritt des Grünen-Parteivorstands als „großen Dienst an der Partei“. „Dieser Schritt zeugt von großer Stärke und Weitsicht. Ricarda Lang und Omid Nouripour beweisen, was für sie der Parteivorsitz bedeutet: Verantwortung. Sie machen den Weg frei für einen kraftvollen Neuanfang. Das ist nicht selbstverständlich, es ist ein großer Dienst an der Partei“, so Habeck.
Habeck sagte weiter: „Hinter uns liegen harte Monate, die Grünen standen voll im Gegenwind.“ Die Niederlagen bei den letzten Wahlen seien unstrittig vom Bundestrend beeinflusst. „Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich. Und auch ich will mich ihr stellen.“
Die Grünen wollen im Herbst entscheiden, ob sie bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr einen Kanzlerkandidaten ins Rennen schicken oder nur mit einem Spitzenkandidaten antreten. Voraussichtlich fällt die Entscheidung vor dem Bundesparteitag, der Mitte November in Wiesbaden stattfindet. Nachdem Außenministerin Annalena Baerbock gesagt hatte, dass sie diesmal nicht an der Spitze stehen will, läuft alles auf Habeck hinaus.
„Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl“, sagte Habeck. Der Parteitag im November werde jetzt der Ort werden, „wo sich die Grünen neu sortieren und neu aufstellen werden, um dann mit neuer Kraft die Aufholjagd zur Bundestagswahl zu beginnen“.
Die Grünen hatten bei der Europawahl im Juni und bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September starke Einbußen hinnehmen müssen.
Weitere Reaktionen
Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil dankten indes der zurückgetretenen Grünen-Spitze für die Zusammenarbeit. „Wir haben gemeinsam an der Spitze unserer beiden Parteien stets verlässlich und vertrauensvoll Dinge besprochen und geklärt“, heißt es in einem gemeinsamen Statement. „Trotz mancher inhaltlichen Unterschiede war diese Partnerschaft sehr angenehm, weil sie auch menschlich belastbar war.“ Deshalb danke man Nouripour und Lang „von Herzen“. Aussagen zu möglichen Auswirkungen auf die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP machen sie nicht.
Unterdessen sieht der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, den Wechsel an der Grünen-Spitze als Zeichen für einen Zerfall der Ampel-Koalition. Gerade jetzt könne sich Deutschland einen weiteren Verlust an Regierungsfähigkeit nicht leisten, sagte der CDU-Politiker. „Anstatt in eine wochenlange Hängepartie zu schlittern, wären mutige Entscheidungen notwendig“, forderte der Abgeordnete. Die Menschen im Land erwarteten Antworten auf die sich zuspitzende Wirtschaftskrise. „Und sie verlangen eine Kehrtwende in der Migrationspolitik.“
„Anfang vom Ende der Ampel“
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wertete den Rücktritt als Menetekel für die gesamte Ampel-Koalition. Problem seien „nicht die Grünen an der Parteispitze, das Problem sind die Grünen in der Bundesregierung“, erklärte er. „Die Ampel implodiert. Die rot-grün-gelben Dominosteine sind am Fallen.“
Auch AfD-Chefin Alice Weidel sah den Rücktritt als „Anfang vom Ende der ‚Ampel‘“. Kanzler Olaf Scholz müsse nun „die Vertrauensfrage stellen“. Deutschland brauche Neuwahlen.