Nach elf Minuten war es vorbei: US-Präsident Joe Biden hielt am Mittwochabend seine wohl letzte Ansprache an die Nation. Er sprach im Oval Office an seinem Schreibtisch, hinter sich Bilder seiner Familie, die US-Flagge und die Flagge des Präsidenten mit dem amerikanischen Adler. Am Sonntag erst hatte Biden angekündigt, nicht mehr antreten zu wollen. Er hatte die Demokraten gebeten, seine Vizepräsidentin Kamala Harris zu nominieren, die inzwischen die Partei hinter sich versammelt hat. Dies war sein erster öffentlicher Auftritt nach seiner Covid-Quarantäne.

Er habe seine Kandidatur aufgegeben, um die Demokratie zu retten, sagte Biden, der verhalten sprach, aber klar und ohne Aussetzer. Das sei wichtiger als persönlicher Ehrgeiz. „Ich verehre dieses Amt, aber ich liebe mein Land mehr.“ Er habe kandidiert, um die Seele von Amerika zu retten, denn Amerika sei die mächtigste Idee der Weltgeschichte, fügte er hinzu. „Wir sind eine großartige Nation, weil wir großartige Menschen haben.“ Ein Land, wo Könige und Diktatoren nicht regierten. Ohne den Namen „Trump“ auszusprechen, drängte Biden die Nation zur Einheit. „Wir sollten diejenigen, mit denen wir Meinungsverschiedenheiten haben, nicht als Feinde sehen, sondern ebenfalls als Amerikaner.“

Er dankte den USA für das „Privileg meines Lebens“, er sei gesegnet mit der Liebe des amerikanischen Volkes, dem er sein „Herz und seine Seele“ gegeben habe. Dass ein stotterndes Kind aus einfachen Verhältnissen Präsident werden könne, gebe es nur hier. Nun aber sei es Zeit, jüngeren, frischen Stimmen Platz zu machen. Dann bat er die Wähler, sich für Harris zu entscheiden, die erfahren, zäh und befähigt sei. „Die Geschichte ist in euren Händen“, sagte er. „Die Idee von Amerika ist in euren Händen. Wir müssen nur daran glauben, und uns erinnern, wer wir sind.“ Und: „Es geht um euch, eure Familie, eure Zukunft, Wir, das Volk.“

Video: Die Geschichte des Joe Biden

Biden zog eine rundum positive Bilanz. Er sei der erste Präsident, der stolz berichten könne, dass Amerika nirgendwo im Krieg sei. Er habe die Nato geeint und sich stark gegenüber Putin gezeigt, Amerika dominiere gegenüber China. Innenpolitisch sei die Verbrechensrate auf dem niedrigsten Stand seit 50 Jahren, es gebe weniger illegale Grenzübertritte als am Ende der Amtszeit seines Vorgängers. Er habe das Land aus der Covid-Krise geholt, die Medikamentenpreise gesenkt und „Big Pharma“ geschlagen und die erste schwarze Verfassungsrichterin ernannt.

Noch hat Biden, der noch fast ein halbes Jahr im Amt ist, einiges vor. Er werde daran arbeiten, den Krieg in Gaza zu beenden und Frieden in den Mittleren Osten zu bringen, sagte er. Heute wird er den israelischen Premier Benjamin Netanyahu treffen, der Washington besucht. Harris hingegen hatte sich entschlossen, Netanyahus Rede nicht anzuhören. Biden schloss mit den Worten: Gott segne euch alle, Gott schütze unsere Truppen.

Berater und Familie stärkten seinen Rücken

Während der Rede sah Biden zu den Porträts von Thomas Jefferson und Franklin Roosevelt auf, zwei Präsidenten, denen er nacheifere. Im Oval Office hatten sich zwei Dutzend enge Berater und Familienmitglieder versammelt, darunter Bidens Frau Jill und seine Kinder Hunter und Ashley. Im Rosengarten des Weißen Hauses warteten Hunderte Mitarbeiter auf ihn. Biden ging nicht auf die wochenlange Kampagne der Demokraten ein, ihn aus der Kandidatur zu drängen. An der Rede – die er vom Teleprompter ablas – hatten laut „New York Times mehrere Berater seit Sonntagabend gearbeitet, darunter Jon Meacham, der offizielle Historiker der US-Präsidenten.

Trump wettert gegen Harris

Derweil hielt der Herausforderer Donald Trump eine Wahlkampfrede in Charlotte, North Carolina, wo er sich deutlich weniger versöhnlich gab. Er werde nicht nett sein, kündigte er an. Dann warnte er vor Kamala Harris. Die ultraliberale, lügende, linksextreme, verrückte Harris sei immer die treibende Kraft hinter Biden gewesen. Trumps designierter Vize J.D. Vance rief den Präsidenten dazu auf, zurückzutreten. Wer zu alt sei, zu kandidieren, sei auch zu alt, zu regieren, sagte er.

Video: Wer ist Kamala Harris?

Auch Harris gab sich deutlich angriffslustiger als der Präsident. In einer Rede in Indianapolis vor meistenteils schwarzen demokratischen Frauen sagte sie, die Wahl sei ein „Kampf gegen Extremisten“, die das Land in die Vergangenheit schicken wollten. „Aber wir gehen nicht zurück“, sagte sie unter Jubel der Menge.

„Project 2025“ verhindern

Sie werde das Recht auf Abtreibung verteidigen und das „Project 2025“ verhindern, eine von der konservativen Heritage-Foundation angestoßene Ideensammlung gegen reproduktive Freiheit und für das Streichen von Sozialleistungen. Die Partei hat Harris gebeten, bis zum 7. August ihren Vizepräsidenten vorzustellen. Nach einer Umfrage des Senders CNN liegt Harris (45 Prozent) um drei Prozentpunkte hinter Trump (47 Prozent), was weniger ist als Biden.