Wie man traditionelle Baukultur modern interpretiert, ohne dass es historisierend-kitschig oder einfach nur nachgemacht wirkt, darin sind die Schweizer besonders gut. Sie schaffen es, ganze Dörfer wie etwa Vrin oder Soglio in ihrem Erscheinungsbild zu erhalten und trotzdem den Menschen zeitgemäßes Wohnen mit allen Annehmlichkeiten moderner Architektur zu bieten. Gion Caminada, Armando Ruinelli oder auch Peter Zumthor sind Meister dieses Fachs. Die Formel dafür könnte man so zusammenfassen: Bauvolumen, Dachneigung und Dachformen, die Ausrichtung der Gebäude, die verwendeten Materialien und Farben werden gemäß der Tradition eingesetzt, hingegen sind Details wie Geländer, Fensterrahmen oder Eckkonstruktionen bündig, minimalistisch und bedingungslos modern. Das Innenleben sowieso. Und die Fenster sind meist wesentlich größer und bringen mehr Licht ins Haus.
Seit nicht allzu langer Zeit hat Kärnten ein weiteres Beispiel, wie das Miteinander von Tradition und Moderne gelingen kann. Marion und Markus suchten mit ihrem kleinen Sohn lange nach einem Bauernhof im Bezirk Feldkirchen, an dem sie sich ihren Lebenstraum von einer nachhaltigen, autarken Landwirtschaft erfüllen könnten. Eine Reihe von Zufällen führte sie auf einen holprigen Weg durch ein finsteres Waldstück, das sich plötzlich zu einer freien, hellen Wiese und einem fels- und eichenbekrönten Hügel öffnete. Hier stand die Ruine eines alten Kärntner „Paarhofes“. Diese Hoftypologie besteht aus zwei eng und parallel nebeneinanderstehenden Gebäuden mit kurzen Wegen, meist in Hanglagen, wo für Vierkant-, Dreikant- oder Einhöfe zu wenig Platz ist. Die beiden konnten die herabgewirtschaftete Hofstelle erwerben.
Für Markus war sofort klar: Das ist ein Auftrag für seinen Schulfreund Christian Prasser, der in Wien ein Architekturbüro betreibt. Nach den ersten beiden gemeinsamen Besuchen vor Ort mussten sie feststellen, dass der alte Hof nicht erhalten werden kann. Aber Marion und Markus wollten den Neubau nach Kärntner Bautradition und unter Einbeziehung von regionalen Handwerkern gestalten. Gleich der erste Entwurf von Christian Prasser passte den beiden: Er zeigte einen Bauernhof in Mittelkärntner Tradition, mit einer Kombination von Mauerwerk und Holzriegelbau, einem Laubengang aus Lärchenholz, einem Kärntner Schopf, einer Durchfahrt wie bei einer Stadelbrücke und mit einem Stallgebäude aus Holz, das nun den Hang entlang quer zum Wohngebäude stehen sollte.
Der markante Kärntner Schopf ist eine Form des Krüppelwalmdaches, bei der das kleinere Dachsegment auf der Giebelseite oben nicht bis zum First und unten nicht bis zur Traufkante reicht. Im Gegensatz zu ähnlichen Konstruktionen, die man beispielsweise in Korea, Sumatra, in der Slowakei oder in Niedersachsen findet, ist das kleine Dreieck unter dem First offen und durchlüftet das Dach. Eine Kärntner Besonderheit.
Bei meinem Besuch an einem der heißesten Tage des Sommers fällt sofort die angenehme Kühle im Inneren des Gebäudes auf: Der luftige Kärntner Schopf ist dafür aber nur ein kleiner Beitrag, die Dämmwerte der massiven 50 Zentimeter starken Ziegelwände und vor allem die Deckenkühlung machen den Unterschied aus. Die Deckenkühlung ist eine der ersten in Kärnten, sie wird mit einer Erdwärmepumpe, die sozusagen im Rückwärtsgang läuft, betrieben. Die Energie dafür liefert die Photovoltaik-Anlage. Beim Genuss dieser angenehmen Temperierung muss ich an das Halskratzen denken, dass im Gegenteil dazu eine amerikanische Aircondition bei mir auslösen würde.
Wohn-, Ess- und Kochbereich sind großzügig dimensioniert, doppelt geschoßhoch und haben eine Sichtverbindung zu den Schlafräumen. Ein Besucher könnte auch über den außen liegenden Laubengang zur unter dem Kärntner Schopf liegenden Terrasse geleitet werden, und muss den Wohnraum gar nicht betreten. Die Terrasse wird durch einzelne transparente Dachziegel in ein feines Lichtspiel getaucht, je nach Tages- und Jahreszeit.
Dieses Licht genießen auch die Brillenschafe im Stall. Der Besucher wird auch hier wie überall am Hof nur regionale Naturmaterialien finden. Für Markus sind die überall sonst eingesetzten erdölbasierten Dämmstoffe „Sondermüll, den unsere Kinder entsorgen müssen“. Am ganzen Anwesen gibt es auch keinen Quadratmeter Asphalt. „So kann das Wasser gut abrinnen. Wir haben sehr viel Glück gehabt, aber wir haben auch viele Entscheidungen richtig getroffen“, sagt Markus. Der einzige Nachteil dieser Alleinlage sei, dass er immer eine Motorsäge im Auto dabeihaben müsse, um sich bei Bedarf den Weg freischneiden zu können.
Und ist der Hof jetzt eher traditionell oder modern? Marion meint: „Es ist ein traditionelles Haus!“, Markus sagt: „Es ist modern und traditionell zugleich“. Architekt Christian Prasser bemerkt: „Es ist eine alte Form, neu interpretiert, mit modernem Wohngefühl.“ Mein Blick fällt auf die Karawanken und ich fühle mich wie in der Schweiz.
Von Christian Brandstätter