Ihr neues Buch beschäftigt sich mit Wohnpsychologie. Wie kommt man überhaupt auf das Thema?
HELGA GUMPLMAIER: Indem sich ein Architekt und eine Lebens- und Sozialberaterin zusammentun und sich über diese Thematik immer wieder austauschen.
Inwieweit sind Sie da Exoten?
HELMUTH SEIDL: Ganz exotisch ist das Thema nicht. In Deutschland ist die Architekturpsychologie sehr präsent und wird auch in Architekturinstituten unterrichtet. In Österreich freilich setzt sich mit dem Thema nur ein kleiner Insiderkreis auseinander.
Sag mir wie du wohnst und ich sage dir, wer du bist? Ist es so einfach? Sind solche Ableitungen legitim?
GUMPLMAIER: Es ist möglich, aber als Systemikerin bin ich mit dem Begriff Ableitung und Analyse immer sehr vorsichtig. Die Wohnpsychologie erlaubt uns, Fragen zu formulieren für die Wohnenden, die sie in einen Bezug bringen zu ihrem momentanen psychischen Zustand. Ein einfaches Beispiel: Wenn in der Mitte einer Wohnung eine dicke Wand steht und alles mit dicken Kästen vollgestopft ist, erlaubt das die Schlussfolgerung, dass da in der Mitte etwas blockiert ist. Wir haben dazu in unserem Buch ein Beispiel von einer Klientin, die sagte: „Jetzt weiß ich endlich, warum ich in meiner Psychotherapie seit drei Jahren nicht weiterkomme, sondern immer wieder in die alten Strukturen zurückfalle.
Das heißt, Umräumen bzw. Umbauen oder Umziehen wäre ein kleiner Therapieansatz?
GUMPLMAIER: Richtig. Ich gehe einmal vom Umräumen und Umstellen aus, weil man ja nicht immer umziehen kann.
Was macht Menschen an den Wohnungen, die derzeit gebaut werden, am häufigsten unglücklich?
SEIDL: Meistens hat es damit zu tun, dass wir uns im Laufe des Lebens erheblich verändern und die Wohnung diesen Prozess nicht mitmacht. Wer seine Wohnung laufend an die veränderten Lebenssituationen anpasst, hat in der Regel auch kein Problem. Diese Menschen wissen instinktiv, worum es bei solchen Veränderungen geht. Zumal man ja schon sagen kann, dass die Wohnung so etwas wie die dritte Haut darstellt, also die Veränderungen des Lebens mitmachen sollte.
Im modernen Wohnbau wird mit den flexiblen Grundrissen aber auch ständig Werbung gemacht.
SEIDL: Das ist durchaus ein positiver Trend, im Geschoßwohnbau ist er aber nur in Ausnahmefällen bemerkbar. De facto hängt ein Großteil speziell der gemeinnützigen Wohnbauträger immer noch am Schachteldenken fest.
Was wünschen Sie sich?
SEIDL: Ich formuliere es einmal extrem: Die Architektur sollte nur die Hülle schaffen, alles andere sollte flexibel und frei einteilbar sein – mit Ausnahme von Küche und Sanitärbereich.
GUMPLMAIER: Wichtig ist außerdem, im Grundriss möglichst vollständig im Quadrat oder Rechteck zu bleiben.
Von welchem Ansatz gehen Sie dabei aus?
GUMPLMAIER: Das ist das System, das wir entwickelt haben, das sogenannte Novagramm, bei dem es um die vollständige Gestalt geht. Unser Gehirn neigt ja dazu, unvollständige Formen zu vollständigen, bekannten zu ergänzen. Wenn im Quadrat ein Eck fehlt, nehmen wir es z. B. trotzdem als Quadrat wahr. Sie kennen sicher diese unvollständigen Figuren, die wir in unserer Wahrnehmung immer vollenden.
SEIDL: Wenn der Fehler allerdings zu groß wird, dann empfindet man das als Defizit: Die Figur ist nicht mehr vervollständigbar bzw. wird reduziert. Damit fehlen in unserer Wahrnehmung auch bestimmte Lebensthemen. Das könnte zum Problem werden.
GUMPLMAIER: Es wird meist als Defizit, als Ungereimtheit empfunden, wenn Menschen in solchen Grundrissen wohnen.
Ziehen diese Wohnungen nicht auch einen bestimmten Menschentyp an?
SEIDL: Das ist ein interessantes Phänomen: Wir hatten in den vergangenen Jahren wiederholt Wohnungen, in die Frauen und Männer nach einer Scheidung eingezogen sind. Die Grundrisse sind zu 95 Prozent deckungsgleich: die gleichen Räume in gleicher Reihenfolge.
Wie sah das konkret aus?
SEIDL: Einfach gesagt: Sie gehen in der Mitte der Wohnung hinein, haben einen Vorraum, auf der linken Seite die Nasszellen und Abstellräume, rechts den Wohnraum und einen Essbereich. Weiter weg vom Eingang ist dann häufig der Küchenbereich, und dort fehlt ein kleines Eck im vollständigen Grundriss. Dann ist links vorne der Schlafraum und in der Mitte genau gegenüber dem Eingang ist ein Büro oder Gästezimmer.
GUMPLMAIER: Auf die psychologische Ebene übersetzt würde das heißen: Im Bereich Urvertrauen gibt es etwas zu bereinigen, darauf deutet die Anordnung der Nasszellen hin. Im Lebensthema Beziehung und Partnerschaft – wir arbeiten im Novagramm ja mit Archetypen – fehlt etwas. Und wenn das Büro vorne in Wohnung ist, ist die ganze Orientierung in dieser Lebensphase einfach auf den Beruf gerichtet. So könnte man es ganz einfach sagen.
In einer glücklichen Partnerschaft würde das wie aussehen?
SEIDL: Diese Frage kann man nicht pauschal beantworten. Es gibt keine optimale Lösung für eine optimale Partnerschaft, weil die Menschen sehr unterschiedlich sind. Und diese Frage taucht in der Regel ja auch nur auf, wenn es in der augenblicklichen Lebenssituation ein Fragezeichen gibt, wenn die Menschen nicht wissen, wie es weitergehen soll.
GUMPLMAIER: Man kann es vielleicht so sagen: Wenn es Spannungen in der Partnerschaft gibt, kann man sich ansehen, wie die Wohnung im Moment eingeteilt ist. Und dann könnte es eine Lösung sein, den Schlafraum in den Archetypus rechts vorne zu verlegen. Das kann für eine Zeit lang hilfreich sein, um wieder einen Schwerpunkt in die Partnerschaft zu bringen und sich auf die Partnerschaft zu konzentrieren.
Worauf kommt es beim Wohnen nun wirklich an?
GUMPLMAIER: Vom Eingang nach vorne gerichtet würde ich sagen: Am wichtigsten ist es, eine zeitliche Komponente hineinzubringen. Wenn ich z. B. in der Mitte meiner Wohnung stehe, ist das, was hinter mir ist, der Vergangenheit zuzuordnen. Wir nennen das auch „Ebene der Ressourcen“. Die Mitte entspricht der Gegenwart, da, wo ich mich im Moment befinde. Und der vordere Bereich der Wohnung ist der Zukunft zuzuordnen, das sind die Lebensziele. Aber in dieser Kürze ist das freilich sehr schwer zu formulieren.
SEIDL: Ich darf dazu ergänzend sagen: Wir sind beim Schreiben dieses Buches sehr weit zurückgegangen. Wir haben uns archäologische Forschungsergebnisse angesehen und sind darauf gekommen, dass es ein Grundmuster schlechthin gibt für die Abfolge von Räumen in einer Wohnung, das war vor 2000 Jahren nicht anders als heute. Der Grundsatz dabei lautet: Je weiter ich in einer Wohnung nach vorne gehe, desto intimer werden die Räume. Der Eingang ist ein halböffentlicher Bereich, dann kommt die Gegenwartsebene, sozusagen der aktive Handlungsbereich. Und danach kommen die absoluten Intimräume, dazu zählt der Schlafbereich. Leider wird es oft umgekehrt gemacht.
GUMPLMAIER: Oft sind auch die Kinderzimmer gleich neben dem Eingang. Dann erleben wir immer wieder, dass wir zur Beratung geholt werden, weil die Kinder in diesem Zimmer nicht schlafen können und zu den Eltern flüchten.
Sind auch Himmelsrichtungen ein Thema in Ihrer Arbeit?
SEIDL: Nein. Weil der Ansatz, den wir vertreten, ein rein psychisch-innerer ist. Die Himmelsrichtungen wären ein äußerer Ansatz, der sich auf das Haus bezieht. Was man aber sagen kann, ist, dass die Bettposition bei Hanghäusern wichtig ist: Wenn das Betthaupt hangabwärts steht, wird man als Schlafender das Gefühl haben, man falle hinunter. Mit Himmelsrichtungen hat das aber nichts zu tun.
Es gibt ja eine Menge Esoterik zum Thema , die sich mit dem Energiefluss in Wohnräumen beschäftigt. Und Feng Shui ist in aller Munde. Überschneiden sich Ihre Ansätze mit fernöstlichen Lehren?
GUMPLMAIER: Unser Bemühen war es, Erklärungen aus der Geschichte zu finden, die unserer europäischen Kultur entsprechen. Gewisse Systeme wie diese neun Felder finden sich ja auch in unseren Bauernhöfen. Es hat uns auch immer geärgert, dass Menschen glauben, wenn sie zwei Delfine ins Partnerschaftseck hängen, bekämen sie den Traumpartner. Das funktioniert halt nicht. Man muss sich bewusst damit auseinandersetzen, was man will, was die eigenen Bedürfnisse sind und wie man dem in der Wohnung Ausdruck verleihen kann.
Gibt es ein plakatives Beispiel aus Ihrer Beratungspraxis, wie etwas leicht zu ändern ist?
GUMPLMAIER: Dieses eine Beispiel, das ich schon nannte, diese Klientin, die sich ihre Mitte völlig verbarrikadiert hatte und die auch das Nachwort in unserem Buch schreibt: Einerseits war da schon eine Mauer im Grundriss ihrer Wohnung eingezogen, andererseits hatte sie noch vor und hinter dieser Mauer jeweils einen vertieften Schrank, der vollgeräumt war mit alten Dingen. Ihr Gefühl war immer, sie käme in ihrem Leben nicht weiter, sie könne nicht zu sich selber finden. Und sie hatte schon drei Jahre Psychotherapie. Nach unserer Beratung hat sie Folgendes gemacht: Sie hat die tiefe Kommode um 90 Grad verschoben und sich dort einen Meditationsplatz eingerichtet. Das war für sie ein richtiges Aha-Erlebnis.
Stauraum hat man allerdings nie genug.
GUMPLMAIER: Wir sagen auch immer: Der Abstellraum übernimmt die Funktion, die früher der Keller hatte. Dort werden Ressourcen verstaut, die man irgendwann einmal brauchen könnte. Irgendwann einmal verliert man aber den Überblick und weiß nicht mehr, was da alles verstaubt. Auf der psychischen Ebenen ist es dasselbe: Alle unsere Erfahrungen werden abgelegt in unserem Gehirn. Irgendwann verschwinden sie aus unserem Bewusstsein. Darum ist der Abstellraum auch ein Symbolraum für unsere Ressourcen. Wenn so ein Abstellraum aber mitten in der Wohnung ist, kann das ein Problem sein, weil ich dann in meiner eigenen Mitte zuviel Unbewusstes versteckt habe. Wir gehen in unserem Ansatz aber nicht davon aus, bestimmte Räume wegzulassen, etwas als gut oder schlecht zu bezeichnen – es hat einfach alles eine Bedeutung in seinem besonderen Umfeld.
Raumgrößen und -höhen: Welches Maß ist ideal?
GUMPLMAIER: Einfach gesagt: Je mehr die Raumproportionen den Körperproportionen entsprechen, desto mehr Wohlgefühl lösen sie aus. Zu hohe Räume können bei Menschen, die das Nest suchen, Verlorenheit hervorrufen. Für jene, die Freiheit suchen, können sie hingegen optimal sein. Man muss fühlen, was dem eigenen Körper gut tut: Welche Höhe, welche Weite und Größe brauche ich?
Wieweit hat das alles etwas mit Geld zu tun?
GUMPLMAIER: Sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, hat nichts mit Geld zu tun. Sobald mir das Problem bewusst ist, kann ich ja durch Einrichtung und Gestaltung etwas tun. Wenn irgendwo ein Eck fehlt, etwa im Bereich Partnerschaft, kann man auch symbolisch einen Ausgleich schaffen. Es geht um Aufmerksamkeit, dass meine Aufmerksamkeit immer wieder auf ein Thema gelenkt wird. Manche machen das unbewusst und stellen alle Dinge zum Beispiel paarweise auf.
Mittlerweile gibt es so gut wie keine neue Wohnung mehr, in der nicht der offene Koch-, Ess-,Wohnraum ein Thema ist. Ist das der Weisheit letzter Schluss?
GUMPLMAIER: Das Spannende ist, dass diese offenen Koch-Wohnformen eigentlich wieder zurückgehen zum Archetypischen, zum Ursprünglichen, wo in der Mitte des Hauses der große Ofen stand. In der offenen Wohnküche fand das ganze Leben statt. Da machten Kinder die Aufgaben, der Bauer verhandelte mit dem Holzhändler etc. Im städtischen Bereich und in den Arbeiterwohnungen war dann alles sehr klein strukturiert und verschlossen, weil man den Küchendunst in den kleinen Wohnungen nicht wollte. Jetzt geht es wieder zurück in dieses Archetypische. Es ist alles wieder vermischt. Man muss nur aufpassen: Gibt es auch genug Rückzugsmöglichkeiten für alle Familienmitglieder?