Auf den ersten Blick ist es ein klassischer Sieg von David gegen Goliath: Kleinanleger durchkreuzen Anlagestrategien großer Hedgefonds und brocken ihnen Milliardenverluste ein. Doch das könnte sich rasch als Pyrrhus-Sieg herausstellen. Denn es droht eine strengere Regulierung von Internet-Plattformen, auf denen sich Kleinanleger zuletzt koordiniert hatten. Außerdem stehen die endgültigen Gewinner dieses Kräftemessens noch nicht fest.
In den vergangenen Wochen hatten Kleinanleger mit dem gezielten Kauf von Aktien des US-Videospielehändlers GameStop und anderen Firmen Hedgefonds gezwungen, ihre Wetten auf den Verfall dieser Papiere aufzulösen. "Da ist der größte Albtraum der Fondsmanager wahr geworden", sagt Naeem Aslam, Chef-Marktanalyst des Brokerhauses AvaTrade. Viele dieser "Shortseller" seien gezwungen, sich von anderen Investments zu trennen, um ihre Verluste auszugleichen. Das sei einer der Gründe für die jüngste Talfahrt von Dax, Dow Jones & Co.
Auch der Kurs des finnischen Telekom-Ausrüsters Nokia springt übrigens wild Hin und Her. Die wie GameStop seit einigen Tagen ins Visier von Spekulanten geratenen Papiere fallen um 14 Prozent, nachdem sie zuvor 8,5 Prozent zugelegt hatten. Ein Händler erklärte den Kursrückgang mit den vom Online-Broker Robinhood auferlegten Handelsbeschränkungen für einige der in Internetforen gehypten Aktien. Die in den USA gelisteten Nokia-Titel liegen knapp 30 Prozent im Minus.
Hohe Nervosität auf den Finanzmärkten
"Die große Unbekannte ist allerdings noch, wie groß der Gesamtschaden ist", fügt Aslam hinzu. Aus diesem Grund lägen die Volatilitätsindizes, die die Nervosität der Anleger messen, beiderseits des Atlantik auf dem höchsten Stand seit Monaten.
"Wenn Kleinanleger scheinbar koordiniert in großem Stil Aktien kaufen, wirft das die Frage möglicher Marktmanipulationen auf", gibt Anlagestratege Michael Hewson vom Brokerhaus CMC Markets zu Bedenken. Für institutionelle Anleger seien solche Absprachen ausdrücklich verboten. Nun rückten Soziale Medien in den Blickpunkt. Ausgangspunkt des GameStop-Hypes war Börsianern zufolge das Forum "Wall Street Bets" der Internet-Plattform Reddit. Dort posteten Nutzer: "GameStop ist der Heilige Gral" oder "Wir fliegen immer noch zum Mond... Es ist noch nicht zu spät, zu kaufen".
Die US-Börsenaufsicht SEC prüft nach eigenen Aussagen die Lage. Sie könnte die New Yorker Börse dazu ermuntern, ihre Regularien zu modifizieren, um solche Kursausschläge abzumildern, prognostiziert Marc Adesso, Partner bei der Anwaltskanzlei Saul Ewing Arnstein & Lehr. Sein Kollege Jacob Frenkel von der Kanzlei Dickinson Wright schließt selbst strafrechtliche Ermittlungen nicht aus. An Reddit sind die Behörden allerdings nach Angaben des Unternehmens bisher nicht herangetreten.
"Mindert die Integrität des Marktes"
Begünstigt wird die aktuelle Entwicklung vom Aufstieg günstiger Online-Broker wie Robinhood.com, die es Otto-Normalanleger leicht machen, an der Börse mitzumischen. "Wir bewegen uns in einer Welt, in der die kleinen Leute denselben Zugang haben wie Profis", betont Technologie-Investor Chamath Palihapitiya in einem TV-Interview. "Sie kommen dann zum selben Ergebnis oder vielleicht auch zum entgegengesetzten." Statt Kleinanleger stärker zu regulieren, sollte der Staat die Informationspflichten verschärfen, für mehr Transparenz.
Außerdem könnte eine strengere Regulierung das Gefühl der Ungleichzeit an den Finanzmärkten zementieren, warnt Chris Weston, Chef-Analyst des Brokerhauses Pepperstone. "Es ist in Ordnung, Zombie-Firmen durch Notenbank-Aktionen zu stützen, aber wenn Kleinanleger Shortseller aufs Korn nehmen, wird ein Riegel vorgeschoben."
Dennis Kelleher, Chef der Denkfabrik Better Markets, plädiert aus einem anderen Grund für eine stärkere Regulierung. Online-Brokern verleiteten Verbraucher mit dem Versprechen quasi kostenlosen Handels zu Geschäften, die sie nicht durchschauten. "Das mindert die Integrität des Marktes und gefährdet die einzelnen Investoren."
Kurs binnen zwei Wochen um das 18-fache gestiegen
Auch Neil Wilson, Chef-Analyst des Online-Brokers Markets.com warnt, dass der Hype um GameStop & Co. wie üblich enden wird. "Einige profitieren, viele verlieren." Wer zur welchen Gruppe gehört, ist aber noch nicht ausgemacht. Viele derjenigen Hedgefonds, die ursprünglich auf den Kursverfall gewettet hätten, seien zwar aus diesen Werten herausgedrängt worden, sagt Ihor Dusaniwsky, Geschäftsführer der Analysefirma S3 Partners. "Neue Shortseller nehmen aber ihren Platz ein."
Vorläufig steht die GameStop-Aktie aber vor erneuten zweistelligen prozentualen Kursgewinnen, obwohl ihr Kurs binnen zwei Wochen bereits um etwa das 18-fache gestiegen ist. Vor diesem Hintergrund schießt am Derivate-Markt die Nachfrage nach "Put"-Optionen in die Höhe. Diese steigen an Wert, wenn das zugrundeliegende Wertpapier verliert. "Spekulanten wetten darauf, dass die aktuelle Blase an irgendeinem Punkt platzt", sagt Randy Frederick, Manager beim Brokerhaus Charles Schwab.
Milliarden-Verluste
Short-Seller an der Wall Street haben laut dem Datenanbieter Ortex Analytics wegen der GameStop-Turbulenzen übrigens bisher Verluste in Höhe von mehr als 70 Milliarden Dollar zu verschmerzen. In den vergangenen Wochen hatten Kleinanleger mit dem gezielten Kauf von Aktien des US-Videospielehändlers GameStop und anderen Aktien Hedgefonds gezwungen, ihre Wetten auf den Verfall dieser Papiere aufzulösen.
Allein bei den Wetten gegen GameStop sind Ortex zufolge bisher Verluste in Höhe von 1,03 Milliarden Dollar entstanden. Der Berliner Online-Broker Trade Republic ist wegen des Börsen-Hypes um Gamestop an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen. Kunden hätten die App am Donnerstag wegen einer "außerordentlichen Überlastung" der angebundenen Handelsplätze nicht in vollem Umfang nutzen können, teilte Trade Republic mit. Hintergrund sei das extrem hohe Handelsaufkommen in normalerweise illiquiden Aktien wie der des US-Videospielehändlers Gamestop und anderer Firmen wie AMC Entertainment, BlackBerry, Nokia oder Bed Bath & Beyond.