"Dauern die Flugverbote länger an als ein bis zwei Wochen, wäre das für Boeing schon bedenklich", sagt Klaus-Heiner Röhl, Luftfahrt-Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Schon jetzt liegt Boeing auf Kurz- und Mittelstrecken hinter Airbus.
Sonntagfrüh war eine 737 MAX 8 der Ethiopian Airlines kurz nach dem Start in Addis Abeba abgestürzt, 157 Menschen kamen ums Leben. Erst im vergangenen Oktober war eine Lion-Air-Maschine des gleichen Typs vor der Insel Java verunglückt, damals gab es 189 Tote. Es ist höchst ungewöhnlich, dass binnen kurzer Zeit zwei Flugzeuge eines neuen Modells abstürzen. Zahlreiche Länder sperrten ihren Luftraum für Maschinen des betroffenen Typs.
Wechsel zu Airbus? "Nicht unwahrscheinlich"
"Das kostet natürlich Vertrauen", sagt Röhl der AFP. Für Boeing drohen die Abstürze jetzt zum finanziellen Desaster zu werden, denn die 737 MAX 8 ist der Verkaufsschlager des Konzerns. Seit 2017 erhielt Boeing 5111 Bestellungen für das Modell, 350 Maschinen lieferte der Konzern bisher aus. Viele Airlines warten laut Röhl auf Modelle, die vorerst nutzlos geworden sind. Der Billigflieger Norwegian Air Shuttle, der 18 Maschinen des Unglücksmodells besitzt, kündigte bereits Entschädigungsforderungen an. Der IW-Experte hält es für "nicht unwahrscheinlich, dass Fluggesellschaften zu Airbus wechseln".Dabei verkauft sich das direkte Konkurrenzmodell A320 neo des europäischen Luftfahrtkonzerns mit 6500 Bestellungen und 687 Auslieferungen seit 2016 ohnehin besser als die 737 MAX 8. "Airbus war einfach schneller im Markt und hat daher einen Vorteil", fasst Röhl zusammen. Boeing habe nur noch auf die A320-neo-Familie reagieren können. Dabei hätten viele Experten zunächst Zweifel gehegt, ob sich die alte 737-Serie wegen ihres kurzen Fahrwerks überhaupt würde modernisieren lassen.
Boeing arbeitet an Software-Update
Tatsächlich musste Boeing die verbrauchseffizienteren, aber auch größeren und schwereren Triebwerke der neuen 737 MAX weiter vorne anbringen. Dadurch veränderten sich Aerodynamik und Schwerpunkt der Maschinen. Der Flugzeugbauer führte daraufhin das Flugkontrollsystem MCAS ein, das Strömungsabrisse verhindern sollte - und jetzt womöglich für die Abstürze verantwortlich gewesen sein könnte.
"Beim zweiten Absturz könnte zudem noch ein Pilotenfehler dazugekommen sein, wenn sich die Vermutung über die Absturzursache bewahrheitet", sagt Röhl. Denn nach dem Unfall vom Oktober habe Boeing die Piloten darüber unterrichtet, wie sich das System bei Fehlern außer Kraft setzen lasse. Es müsse jetzt geklärt werden, ob "die Flugzeugführer das nicht versucht haben oder ob es nicht funktioniert hat". In jedem Fall werde Boeing versuchen, die Probleme durch ein Software-Update zu beheben.
Dass sich jetzt ein dritter Anbieter in den Markt drängt und das Flugzeug-Duopol unter Druck setzt, hält Röhl allerdings für unwahrscheinlich. "Bombardier ist bei Airbus eingegliedert und der brasilianische Flugzeugbauer Embraer arbeitet mit Boeing zusammen", erklärt der Experte. Langfristig könnte höchstens die geplante russisch-chinesische Luftfahrtkooperation den beiden Marktführern gefährlich werden.
"Insgesamt betrachtet, ist das ein einziges Desaster"
Für Boeing ergibt sich jedenfalls ein finanzieller wie auch logistischer Albtraum. Zusätzlich zum enormen Imageschaden drohen Schadenersatzforderungen betroffener Airlines und der Verlust von Neuaufträgen, meint der Luftfahrtanalyst Wolfgang Donie von der Landesbank NordLB in Hannover.
"Insgesamt betrachtet, ist das ein einziges Desaster", sagt Donie und warnt auch vor kurzfristigen Engpässen beim Lufttransport. "Der Markt ist schwierig, es fehlt an Ersatzflugzeugen - das könnte schon zu Engpässen führen."
Allerdings glaubt er kaum, dass auch ein mehrmonatiges Flugverbot für die Boeing 737 Max 8 den US-Konzern existenziell gefährden könnte. "Boeing kann es verkraften, aber es dürfte sehr weh tun, je länger die Flugverbote andauern." Denn dadurch können jetzt diverse neue Maschinen nicht mehr ausgeliefert werden - die vorerst wohl letzte wurde diese Woche noch an den TUI-Konzern aus Hannover übergeben. "Es werden planmäßig weitere Auslieferungen folgen", sagt ein Tuifly-Sprecher, betont aber: "Da wird Boeing erklären müssen, was mit denen geschieht: Die sind ja noch nicht in unserem Besitz."
"Boeing muss dringend klare Antworten liefern"
"Boeing muss jetzt dringend klare Antworten liefern, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen", sagt der Hamburger Luftfahrtexperte Cord Schellenberg, der von einem Einschnitt spricht. Die emotional stark aufgeladene Debatte um die Zuverlässigkeit der neuen Maschine habe bei vielen Passagieren und auch Besatzungen Urängste ausgelöst, weil gegen einen Grundkonsens der Fliegerei verstoßen worden sei. "Der besteht ja darin, dass Weiterentwicklungen bewährter Modelle einen zusätzlichen Sicherheitsgewinn bringen - und das hat die weltweite Luftfahrt in den vergangenen Jahren ja auch gut hinbekommen."
Es sei daher ungewöhnlich, dass Flugzeugbezeichnungen in so kurzer Zeit zum Synonym für Unzuverlässigkeit und Unsicherheit verkommen. Kinderkrankheiten seien vor allem bei Neuentwicklungen zu erwarten, weniger bei so bewährten Typen wie der als verlässlich geltenden Boeing 737. "Für die gesamte Industrie ergibt sich dadurch ein völlig neuer Gedankenansatz", meint Schellenberg. Ob der Konkurrent Airbus von der Lage profitiert? "Wenn die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen, kann man das wohl genauer beantworten", meint der Experte, der sich vor allem bei margenschwachen Airlines einen opportunistisch motivierten Wechsel zur Konkurrenz vorstellen kann.
Trump hofft auf baldiges Ende von Startverbot
US-Präsident Donald Trump hofft auf ein baldiges Ende des Startverbots für Flugzeuge vom Typ Boeing 737 Max in den USA. Der US-Luftfahrtkonzern Boeing sei "eines der wahrhaft großen Unternehmen der Welt", sagte Trump am Rande eines Treffens mit dem irischen Premierminister Leo Varadkar im Weißen Haus.
Das Unternehmen wisse, dass es die Ursache des Absturzes einer Boeing 737 Max 8 am Sonntag in Äthiopien und eines Crashs eines baugleichen Flugzeugs im vergangenen Oktober in Indonesien schnell aufklären müsse. "Sie sind unter großem Druck." Trump betonte, die Verhängung des Flugverbots sei "eine große Sache" gewesen. "Ich hoffe, es wird für eine kurze Dauer sein."
Reisebüros: "Mit Sicherheit keine Kapazitätsengpässe"
Laut Josef Peterleitner, Präsident des Reisebüroverbandes, werde es aufgrund der Sperren "mit Sicherheit zu keinen Kapazitätsengpässen kommen", weil Airlines andere Jets anmieten müssen. "Es gibt keinen Grund für die Reisebüros, ihre Reiseangebote zu überarbeiten", so Peterleitner im "Mittagsjournal" des ORF-Radio Ö1 am Donnerstag.
TUI hatte das Flugzeug für einen einzigen Charterflug ab Österreich vorgesehen gehabt, werde aber ein anderes Flugzeug verwenden. Das muss TUI tun, weil das Boeing-Flugzeug nicht mehr fliegen darf - für zumindest mehrere Monate, bis neue Zertifizierungen vorliegen.