Die ökonomischen Verwerfungen, die die Maßnahmen zu Eindämmung des Coronavirus mit sich bringen, werden vermutlich bald zum vordringlichsten Aspekt der Krise werden. Diese Vermutung hegt der Historiker Philipp Ther. Die große Frage sei: "Wie sieht es in vier bis sechs Wochen aus?", so der Wissenschafter, der sich auch um das weitere Erstarken nationaler Tendenzen sorgt.
Suche man nach halbwegs passenden historischen Präzedenzfällen in unseren Breiten, werde man am ehesten bei der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919 fündig. Der Kontext mit dem Ende des Ersten Weltkrieges sei laut Ther allerdings ein völlig anderer gewesen.
"Die Frage für mich als Historiker ist: Wie lange man einen faktischen Ausnahmezustand wirklich aufrechterhalten kann?" Zwar sei jetzt die Zustimmung zu den Maßnahmen hoch, die sehr weit in den Ablauf des öffentlichen und privaten Lebens sowie in Grundrechte hineinwirken, "aber das eigentliche Problem wird dann sehr schnell auch ein Ökonomisches", sagt der Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien.
"Die Krise wird zur Überlebensfrage"
Gerade in Österreich mit seinen vielen mittleren und kleinen Betrieben werde die Krise mitunter zur Überlebensfrage. Bei den bisher gesetzten Maßnahmen stelle sich die Frage, ob die "ökonomische Herausforderung schon ausreichend im Fokus gestanden ist". Angesichts zu erwartender höherer Arbeitslosenzahlen würden auch Fragen zur Höhe der Sozialabgaben oder der Mieten in den Mittelpunkt rücken. Ther: "Die müssten ja dann dringend reduziert werden."
Für den Wissenschafter, der unter anderem zur Geschichte der Transformation seit den 1980er-Jahren, zur Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas oder zum Nationalismus forscht, ist auch interessant, dass bei der Verkündung solch weitreichender Maßnahmen in vielen Ländern "von Bürger- oder Menschenrechten überhaupt nicht mehr die Rede ist. Da ist meine Sorge schon, dass dieser Ausnahmezustand auch Rück- und Einschnitte in diesen Bereichen mit sich bringen kann, die später nicht mehr zurückgenommen werden können".
"Dann ist es vielleich zu spät"
Wenn Teile der Bevölkerung Maßnahmen dann einmal nicht mehr mittragen, käme etwa in Fragen zum Demonstrationsverbot neue Dynamik. Diskussionen über Bürgerrechte würden laut Ther in näherer Zukunft vermutlich auch wieder zunehmen, "dann ist es vielleicht aber auch schon etwa spät".
Im Moment mache es auch den Anschein, "dass die internationale Ordnung zerfällt und in der Stunde der Not sich wieder alles auf den Nationalstaat zurückzieht", sagte Ther. Das sei auch ein Stück weit logisch, weil die EU im Bereich der Gesundheitspolitik wenig Kompetenzen habe. Gerade für die hochgradig von der internationalen Vernetzung abhängigen kleineren und mittleren Staaten Europas, wie Österreich, könnte eine Reduktion der Zusammengehörigkeit und Kooperation negative Effekte haben.
Gleichzeitig habe man den Eindruck, dass "bestimmte politische Kreise den Rückfall auf den Nationalstaat geradezu begrüßen. Auf die Dauer ist es angesichts der Integriertheit der europäischen Volkswirtschaften aber eine völlig irrige Annahme, dass man innerhalb dieses Rahmens neuen Wohlstand erzeugen kann", so der Historiker, der sich auch mit sozialen Folgen von Wirtschaftsreformen und ihren regionalen und sozialen Auswirkungen beschäftigt.
Bei der Bewältigung der Krise müsste man vermutlich auch darüber nachdenken, wie die Lasten tatsächlich verteilt sind. Die Frage sei auch, ob nicht "Berufsgruppen, die von den Einschnitten rein finanziell relativ wenig betroffen sind, vielleicht einen besonderen Beitrag leisten müssten, um denen zu helfen die jetzt am stärksten darunter leiden".