1 Welchen Fall hat der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe entschieden?
Herbert Gilbert, Pensionist aus Rheinland-Pfalz, hatte 2014 um den Kaufpreis von 31.490 Euro einen VW Sharan Turbodiesel gekauft. Das Auto ist mit einem Motor vom Typ EA189 ausgestattet – einem jener Motoren, die von den Manipulationen an der Abgassoftware betroffen waren, die Volkswagen im Herbst 2015 eingestanden hat. Gilbert klagte und wollte den Kaufpreis zurück. Das Verfahren ging bis zur höchsten zivilgerichtlichen Instanz in Karlsruhe, wo ein Senat für den Kläger und gegen Volkswagen entschied. Der Hersteller muss das Auto zurücknehmen und abzüglich der Nutzung des Fahrzeuges eine Entschädigung von insgesamt 28.257,74 Euro zahlen – knapp 90 Prozent des Kaufpreises.
2 Wie argumentierte VW und wie begründen die Richter ihr Urteil?
Bis jetzt vertrat Volkswagen den Standpunkt, dass den Käufern der manipulierten Autos kein Schaden entstanden sei – zumal sie immer nutzbar waren. VW wollte gar nichts zahlen. Bereits das Oberlandesgericht Koblenz und nun auch das Höchstgericht sind ganz anderer Meinung. Das Verhalten von VW „ist im Verhältnis zu einer Person, die eines der bemakelten Fahrzeuge in Unkenntnis der illegalen Abschalteinrichtung erwirbt, besonders verwerflich und mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht zu vereinbaren“, heißt es in der Entscheidung.
3 Was bedeutet der Richterspruch für andere VW-Kunden?
Das Urteil gibt die Linie für noch laufende Gerichtsverfahren vor. Bisher hatten die unteren Instanzen sehr unterschiedlich geurteilt. Laut VW sind in Deutschland noch 60.000 Verfahren anhängig, auch in Österreich sind Gerichte mit der Aufarbeitung des Skandals beschäftigt. Auf den im Rahmen einer Musterfeststellungsklage ausgehandelten Vergleich, den laut VW inzwischen 240.000 Dieselbesitzer akzeptiert haben, hat das Urteil aber keine Auswirkungen mehr. In einer ersten Reaktion bot VW verbleibenden Klägern Einmalzahlungen an. Indes haben die Karlsruher Richter für Juli drei weitere Verhandlungen zu anderen Dieselfällen angesetzt – mit dem gestrigen Spruch sind nicht alle Rechtsfragen geklärt.
4 Wie können österreichische Betroffene das Urteil nützen?
Sofort nachdem der Senat in Karlsruhe seine Entscheidung bekannt gegeben hat, teilte Rechtsanwalt Claus Goldenstein, dessen Kanzlei Kläger Gilbert vertritt, mit: Auch Österreicher könnten nun gegen VW in Braunschweig, Gerichtsstand des Konzerns, Schadenersatz einklagen. Das sei zwar bisher schon möglich gewesen, hätte aber wenig Sinn gemacht. Denn „die Braunschweiger Gerichte haben bis jetzt kein einziges Urteil gegen den Konzern in dieser Sache gefällt“, so Goldenstein. Dies werde sich nun ändern müssen. Bei sittenwidriger Täuschung betrage die Verjährungsfrist für Österreicher 30 Jahre – auch vor deutschen Gerichten. Auch der österreichische Konsumentenschützer Peter Kolba warb am Montag für Klagen in Deutschland. Kolba arbeitet mit einem Prozessfinanzierer zusammen, der im Erfolgsfall 35 Prozent des erstrittenen Betrages erhält.
5 Wirkt sich das Urteil auch auf Klagen in Österreich aus?
Der Verein für Konsumenteninformation vertritt in Österreich 10.000 Kläger in 16 Sammelklagen. Für VW sind Klagen in Österreich nicht zulässig, Thomas Hirmke, Chefjurist des VKI, erwartet dazu in Kürze eine Klarstellung und grünes Licht vom Europäischen Gerichtshof. Hirmke glaubt an eine Signalwirkung, denn der BGH hält die „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ fest „und das ist die Anspruchsgrundlage, auf die auch wir unsere Klagen stützen“, erklärt Hirmke. Im Unterschied zum Fall Gilbert wollen die vom VKI vertretenen Kläger ihre Autos aber nicht zurückgeben, sondern fordern einen pauschalen Schadenersatz. „Volkswagen hat sich in der Wiedergutmachung bis jetzt mit Händen und Füßen gewehrt“, zieht Hirmke kritische Zwischenbilanz.
Österreich habe als Mitglied der EU auch das entsprechende Abkommen (EuGVVO) zu beachten, in dem das Recht manifestiert wird, dass jeder Verbraucher an seinem Wohnsitz klagen könne, darauf verweist der Innsbrucker Rechtsanwalt Martin J. Moser in einer Stellungnahme an die Kleine Zeitung (Moser ist ein auf Abgasklagen spezialisierter Anwalt). "Österreicherinnen und Österreicher oder auch hier ansässige Deutsche können also mit einem qualifizierten Anwalt am jeweils zuständigen Bezirksgericht oder Landesgericht unschwer klagen."
Klagen seien, so Moser, deshalb nötig, "weil VW sämtliche Ansprüche schriftlich ablehnt. Da stellen auch die nun aufkommenden vollmundigen Ankündigungen, wonach man sich im Einzelfall vergleichen wird und keine Klagen mehr nötig seien, nun ein Schlusspunkt gesetzt worden sei, etc. wieder nur Täuschungen dar: Ohne Klage gibt es für VW keinen Vergleich."