Die uns allen eigene Neugier lässt uns ein Modell vom Funktionieren unserer Welt bauen, einen Blick über unsere Grenzen werfen und Verfahren entwickeln sowie Instrumente bauen, die uns wiederum Daten liefern, um unser Weltmodell zu verbessern und unser Verständnis zu erweitern. Und das alles in der Hoffnung, dass nach jedem Durchlaufen eines jeweiligen Entwicklungszyklus der Abstand zwischen Realität und Modell kleiner und kleiner wird. Wir nennen das „Life long learning“ – aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den Beobachtungen der Gegenwart, auf der Basis unseres Weltmodells einen Blick in die Zukunft tun.
Und dann geschieht etwas sehr Merkwürdiges: es wächst die Erkenntnis, dass die Ergebnisse dieser Entwicklung nicht bloß der Befriedigung unserer Neugier dienen, sondern auch zusehends unser Leben erleichtern. Und so nimmt neben der Neugier alsbald auch die Notwendigkeit Platz. Neugier und Notwendigkeit gleichermaßen werden zum Treiber der Forschung und zu gestaltenden Elementen der Zukunft. Und setzen wir salopp die Neugier mit Grundlagen und die Notwendigkeit mit Anwendung gleich, so ist damit auch schon eine tragfähige Brücke gebaut zwischen der Grundlagenforschung da und der angewandten Forschung dort.
Und schließlich ist es die Gesellschaft, die Förderer und Nutznießer der Forschung und somit der Gestaltung der Zukunft durch Forschung ist. Wissenschaft und Forschung stehen nicht mehr in der Gesellschaft wie eine Besatzungsarmee im Feindesland oder gar ein Minarett im Vatikan. Ganz im Gegenteil. Versuchen Sie doch einmal, sich ein Leben ohne Wissenschaft und Forschung, ein Leben ohne die Errungenschaften von Technik, Medizin, Kunst und Kultur, des Rechtsstaates, des Sozialsystems, ja der Gesellschaft überhaupt vorzustellen: wir wären flugs wieder dort, wo wir noch vor Jahrtausenden waren - nämlich Jäger und Sammler, wenn überhaupt.
Unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft
Ja, Wissenschaft und Forschung sind zu einem ganz besonders bedeutsamen und unverzichtbaren Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Der Wert von Wissenschaft und Forschung erstreckt sich dabei über eine große Bandbreite – von der intellektuellen Neugier bis hin zur gesellschaftlichen Notwendigkeit. Und den Wohlstand, den wir doch alle so genießen, verdanken wir letztlich der Wissenschaft und Forschung.
Materieller Wohlstand ist das eine, intellektueller Wohlstand das andere. Und die Mutter des letzteren ist nun mal die Wissenschaft. Wenn wir daher in Zukunft diese Art von Wohlstand als unser Ziel verstehen, dann müssen wir Wissenschaft und Forschung betreiben – auf höchstem Niveau und im Umfeld intellektueller Freiheit.
Covid-19 hat uns hoffentlich die Augen hinreichend geöffnet und uns gezeigt, was in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik falsch gelaufen ist und was wir ab sofort tunlichst beachten sollten, um gegen eine zukünftige globale Herausforderung gewappnet zu sein. Was haben wir also aus unseren Erfahrungen mit Covid-19 gelernt?
10 Lehren aus Covid-19
- Dass die so ungemein schnelle wie auch erfolgreiche Entwicklung von Vakzinen überhaupt stattfinden und mittlerweile durch Impfungen Leid und Leben in gewaltigem Ausmaß verhindern konnte, ist der frühen Forschung und Entwicklung geschuldet – und das bereits viele Jahre vor Ausbruch von Covid-19. Die rechtzeitige (Grundlagen)forschung hat uns eindrucksvoll gezeigt, dass nicht die Dummen das Glück haben – wie häufig im Volksmund behauptet – sondern vielmehr das Glück den vorbereiteten Geist bevorzugt (so wie uns dies bereits Louis Pasteur wissen ließ).
- Die Grundlagenforschung und angewandte Forschung sind keine getrennten Mengen, sondern bedingen einander. Eine strenge Abgrenzung der beiden ist daher nicht sinnvoll.
- Grundlagenforschung hat bekanntlich einen sehr langen Atem und ist auch mit Risiko behaftet, was den Geldgeber mitunter allzu schnell nach dem „Return on Investment“ rufen lässt. Covid-19 zeigt uns jedoch eindrucksvoll, dass wir sehr gut beraten sind, dieses Risiko einzugehen und den Mut zur ordentlichen Finanzierung der (Grundlagen-)Forschung nicht bloß in eine, sondern in beide Hände zu nehmen.
- Investition in die Forschung stellt sich oft als eine ganz besonders gute Form der Investition mit einer langfristig hohen Rendite dar.
- Corona hat bekanntlich ein globales Problem zur Folge gehabt, dessen Begegnung mit lokalen Lösungsversuchen stümperhaft bleiben muss. Ein globales Problem kann nur durch ebenso globale Anstrengungen und intensive internationale Zusammenarbeit gelöst werden.
- Covid-19 ist eine komplexe Problematik, welche sich einfachen Denk- und Lösungsansätzen entzieht. Komplexe Thematiken brauchen vielmehr eine starke interdisziplinäre Zusammenarbeit.
- Lehr- und Forschungsinstitutionen sind gut beraten, Erkenntnisse nicht als alleingültige Wahrheiten zu verkünden, sondern sollten bewusst die Freiheit der Wissenschaft hochhalten und auch unterschiedlichen Meinungen Heimat bieten.
- Eine gezielte Begegnung eines Problems darf nicht durch intellektuelle Barrieren behindert werden, sondern braucht einen offenen Zugang – ganz im Sinne von Open Science, Open Acess und Open Data.
- Der Politik mit ihren staatslenkenden Aufgaben fällt kein Stein aus der Krone, wenn sie sich ganz bewusst wissenschaftlicher Kompetenzen bedient und basierend auf diesen letztlich ihre Entscheidungen trifft.
- Das winzige Corona-Virus als extrem kleine Ursache hat eine riesige weltweite Wirkung gezeigt – eine typische Eigenschaft eines instabilen Systems. Die Nachwirkungen jenseits von Covid-19 werden erst jetzt so richtig sichtbar: wenn beispielsweise Lieferengpässe aufgrund globaler Vernetzungen (und somit Abhängigkeiten) Produktionsabläufe mitunter massiv beeinträchtigen und eine erhebliche Preisentwicklung bewirken.
Die nächste globale Herausforderung in einer noch sehr viel größeren Dimension hat uns bereits erreicht und erfordert schon jetzt gezielte Maßnahmen in globalem Maßstab, um nicht von der Geschichte bestraft zu werden und unser Leben auf diesem Planeten auch in der weit vor uns liegenden Zukunft erstrebenswert zu machen: der Klimawandel.
Und so sollte die Pandemie für uns alle, vor allem aber auch für die Politik, ein „Eye-opener“ für die enorme Bedeutung der Forschung als absolut unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren und das Wohl unserer Gesellschaft, der Industrie und der Wirtschaft, den globalen Handel, den Fremdenverkehr bis hin zu einem geordneten Sozialsystem.
Hans Sünkel, geboren am 4. Oktober 1948 in Rottenmann. Er war von Oktober 2003 bis Ende September 2011 Rektor der Technischen Universität Graz, von 2010 bis 2011 war er zudem Präsident der Österreichischen Universitätenkonferenz. Sünkel war u. a. stv. Direktor des Instituts für Weltraumforschung (IWF) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und er ist Vorsitzender des Universitätsrates der Medizinischen Universität Graz, Mitglied des Board of Trustees der Heliopolis University Cairo und Mitglied des Aufsichtsrates des Wissenschaftsfonds.