Das Zweirad, motorisiert, elektrifiziert oder mit Muskelkraft betrieben, erlebt eine gesellschaftspolitische Renaissance: Hält es das, was man sich als Heilmittel gegen Klimakollaps und Verkehrsinfarkt verspricht?
GERALD KISKA: Wir haben ja nicht nur eine Klima- und CO2-Fußabdrucksdiskussion. Wir haben auch eine Verkehrsinfarktsdiskussion. Es ist egal, mit welchem Auto oder Antriebskonzept du im Stau stehst – du stehst im Stau. Verkehrsflächen wachsen nicht. Das Zweirad ist ganz einfach eine Lösung, die Verkehrslawine unter Kontrolle zu bekommen.
STEFAN PIERER: Das Zweirad ist ein strategischer Beitrag zu dem Thema, das wir haben: Klimawende. Es ist einfach ein konstruktiver Beitrag. Du bist von A nach B schneller unterwegs, brauchst weniger Platz und es ist günstiger. Und es gibt alle Ausprägungen. Vom echten mechanischen Fahrrad über Hybridversionen, sprich das E-Bike; dann die kleinen Zweiradvarianten, die in den wachsenden Märkten auf der ganzen Welt geholfen haben, die Verkehrsprobleme einigermaßen in den Griff zu bekommen. Und im Freizeitbereich und im Motorsport wird das Motorrad mit synthetischen Kraftstoffen seinen Beitrag leisten. Das Zweirad ist ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz auf globaler Ebene.
KISKA: Aufgrund der physikalischen Gesetzmäßigkeiten ist die Demarkationslinie, bis zu welcher Motorradgröße der E-Antrieb sinnstiftend ist, jedoch viel stärker ausgeprägt als beim Auto. Das ist auch ein Sicherheitsthema. Beim Auto schummelt man sich da drüber, selbst mit 2,5 Tonnen. Das ist beim Auto machbar, aber nicht beim Motorrad.
PIERER: Es geht ganz einfach um die Energiedichte und den Hausverstand: Ein Liter Sprit hat eine bestimmte Energiedichte. Um eine State-of-the-Art-Lithium-Ionen-Batterie mit der gleichen Energiedichte aufzubauen, brauchst du das zehnfache Gewicht und das zehnfache Volumen im Vergleich zu einem Liter Sprit. Ein Zehn- oder 15-Liter-Tank beim Motorrad ist nicht klein. Was mache ich aber mit 150 Kilogramm Batterien beim Motorrad? Führe ich die am Anhänger mit oder fliegt die Drohne mit? Nein! Die Demarkationslinie beim Motorrad liegt bei der – im übertragenen Sinn – 125-ccm-Klasse und bei 15 PS, 20 PS. Da wiegt das Batteriepaket bis 20, 30 Kilogramm, das bekommt man unter. Das kann man auch austauschen. Alles andere funktioniert nicht. Wie beim Flugzeug, da funktioniert auch nur synthetischer Kraftstoff. Ich brauche die Innovationsfreiheit, das wird sich auch beim Auto noch zeigen: Auf der kurzen Strecke ist E-Mobilität sinnstiftend. Die urbane Mobilität wird elektrisch sein.
Überall auf der Welt?
PIERER: Wir sehen das sogar schon in Indien.
KISKA: Ob jede Fahrzeuggattung damit besser fährt, weiß ich nicht: Es kommt noch die gesellschaftspolitische Diskussion dazu, da heißt es: Wer braucht überhaupt ein starkes Auto? Das ist aber weniger eine Umweltschutz-, sondern eine gesellschaftspolitische Diskussion. Und die zwei Dinge werden permanent in einen Topf geschmissen, und das macht die Diskussion schwierig.
PIERER: Man muss es so sehen, dass eine notwendige Klimaschutzdiskussion und Klimaschutzinnovation mit Ideologie vermischt werden. Das, was die Grünen machen, ist Kommunismus, das ist Ideologie. Aber: E-Mobilität wird in verschiedenen Fahrzeuggattungen ihren Platz haben, auf der Kurzstrecke und im urbanen Bereich.
Werden die Städte mit der immer stärkeren Rolle der Zweiräder auch autofrei?
KISKA: Autofrei will ich es nicht nennen. Wir werden einfach auch andere Arten von Fahrzeugen sehen.
PIERER: Wenn man nach Kopenhagen schaut, da hatte das Fahrrad schon immer einen traditionell starken Stellenwert. Wir haben historisch eine andere Verkehrsstruktur, da fährt der Bus, das Taxi. Ich würde mich an einigen Orten nicht mit dem Zweirad fahren trauen.
KISKA: Was langweilig an der Diskussion ist, dass man immer in einer Grundsatzdiskussion endet und die Grauschattierungen vergisst. Man könnte extrem viel vonseiten der Politik tun. Zum Beispiel die Verkehrsströme trennen, eigene Fahrspuren eröffnen, Fahrverbote für gewisse Vehikel in gewissen Zonen vorgeben. Wenn man es aber jedem recht machen will und damit nichts tut, wird es nicht gehen. Und dann nur zetern, dass alle elektrisch fahren – das ist nicht die Lösung.
Gibt es zu wenig Ehrlichkeit in der Diskussion?
KISKA: Solange Politiker ihren Job so verstehen, dass sie wiedergewählt werden wollen und es nicht um den Beitrag für das Land geht, wird sich nichts bewegen.
Man sieht aber, was sich die Pariser Bürgermeisterin derzeit traut und wie sie die Stadt mit ihren verkehrspolitischen Ideen verändert.
PIERER: Es entstehen in Paris eigene Regeln, in Barcelona auch – wir regulieren uns im Detail bis zum Stillstand.
KISKA: Das Pariser Beispiel ist ja aus einer Not heraus geboren. Wir haben für Renault auch ein Mikromobilitätsprojekt bearbeitet und Renault hat eine Studie gemacht. Die Frage: Wie beeinflusst die Größe des Fahrzeugs das Tempo? Man hat gesehen, dass die Zeit von A nach B in Paris mit einem Roller 20 Minuten dauert und mit einem Auto eine Stunde. Man ist also um den Faktor drei schneller. Dann hat man ausprobiert, ab welcher Fahrzeuggröße der Verkehr verlangsamt wird. Bei einer Fahrzeugbreite von unter einem Meter ist die Fahrzeit auf 40 Minuten gefallen und bei einer Fahrzeugbreite von weniger als 80 Zentimetern waren es nur noch 20 Minuten. Weil so eine vierte, fünfte, sechste Fahrspur aufgemacht wird, wo nur drei vorgesehen sind. Deshalb sind Regelungen wie in Paris dem Verkehrsinfarkt geschuldet. Da geht sowieso nichts mehr mit einem großen Vehikel.
KTM hat auch für andere Hersteller aufsehenerregende Konzepte gemacht: Zwitter zwischen Auto und Motorrad, mit einem Dach über dem Kopf, auch mit vier Rädern – wäre das auch etwas für die Zukunft?
PIERER: Wir haben bei KTM eine grobe Beurteilung, was wir gerne machen und bauen wollen: Wenn man mit seinem Zweirad vor einem Biergarten, Café oder Restaurant stehen bleibt und die Leute schauen her und sagen: "Toll." Ich kann mir das bei einem Roller, bei einem Motorrad mit Dach nicht vorstellen. Da schäme ich mich. Da fahre ich in den Hinterhof.
KISKA: Ich glaube, da sind wir in einem Generationenkonflikt. Die nächste Generation fährt mit so einem Gefährt ohne Probleme vor.
PIERER: Ja, da gibt es bestimmt einen Umbruch.
Sind Rad und E-Rad die Heilsbringer? Auf Fahrradwegen wird es derzeit schon mit den Cargo- und Lastenrädern eng.
PIERER: Es geht auch darum, die Infrastruktur bereitzustellen, dann funktioniert das.
KISKA: Die Verwendungsdauer von einem Zweirad über das Jahr gesehen wird länger. Das ist immer noch ein guter Kompromiss. Du bist nicht limitiert in Sachen Fahrdynamik, du bist verbrauchsoptimiert unterwegs und du bist sehr schnell im Vergleich und wendig. Und überall, wo die Dichte noch größer ist als bei uns, geht mit dem Auto nichts mehr. Das Einzige, mit dem man durchkommt, ist das Zweirad.
KTM baut ein Mehrmarkenreich am Radmarkt auf. Wohin geht die Reise?
PIERER: Wir haben uns 2016/2017 entschlossen, den Radmarkt zu besetzen, mit der Motorradmarke Husqvarna und der Trialmarke GasGas. Man braucht auch eine Fahrradmarke, deshalb haben wir die Marke Felt ins Portfolio geholt, die auch von der Philosophie gut zu uns passt. Mit diesen drei Marken wollen wir unser Sortiment entwickeln.
Was ist im E-Bike technisch und beim Design möglich?
KISKA: Beim Motorrad baut immer der Hersteller das Kernstück, das Antriebsaggregat. Beim Fahrrad ist es anders, dort kauft man die Technik extern zu. Insofern ist die Entstehungsgeschichte anders, weil man um die Standardkomponenten herum gestaltet. Und es gibt eine klare Gesetzeslage: 25 km/h und 600 Watt Peak. Wir sehen schon noch einen Raum zur Entwicklung, aber das bleibt eine Nische. Das Gros entwickelt sich im regulatorischen Bereich. Das nächste werden die 45 km/h sein ...
PIERER: ... und damit wird das Mofa wieder kommen. Das Pony von KTM als Rad, da kommen Konzepte. Das Mofa wird sich neu zeigen, aber eben elektrisch.
Wie wird KTM mit Rollern weitermachen? Hier gab es große Pläne?
PIERER: Man muss in die A1-Klasse: Da haben wir mit unserem strategischen Partner CF Moto einen Roller, der ab 2024 mit der chinesischen Originalmarke mit einer Reichweite von rund 70, 80 Kilometern kommt. Die Elektroplattformen für uns werden in China gebaut, wir haben dort ja auch ein Joint Venture. In Zukunft sehen wir für uns eher E-Motorräder auf der Plattform.
Wie werden sich die Preise bei E-Rädern entwickeln?
PIERER: Der Grundfehler ist schon vor Jahren passiert. Beim einfachen Rad ohne E-Antrieb, das sehr günstig ist, brauche ich eine Händlerspanne von 30 Prozent, was logisch ist. Und das wurde bei den wesentlich teureren E-Rädern nicht korrigiert.
KISKA: Dazu kommt: Die Technologie ist in den Händen der Zulieferer. Da ist der Einfluss auf die Entstehungskosten überschaubar. Beim Motorrad und bei der Fertigungstiefe, die KTM hat, habe ich fast auf jede Komponente einen Einfluss. Solange da kein Druck draufkommt, werden sich die Preise nicht verschieben.
Wie wird sich das Motorradfahren mit all der Sicherheitstechnik verändern?
PIERER: Bei uns ist das Hauptthema Sicherheitsrelevanz. Wenn man sich die Unfälle anschaut: Bei 50 Prozent der tödlichen und schweren Unfälle kann der Motorradfahrer nichts dafür – er wird übersehen. Das heißt, die Erkennung des Motorradfahrers, die Sichtbarkeit am Bildschirm des Autofahrers ist wichtig.
KISKA: Und umgekehrt: Die Detektierung des Umfelds ist Basistechnologie im Auto, das gehört ins Motorrad.
PIERER: In drei, vier Jahren wird eine KTM auch mit Autos kommunizieren können.
Didi Hubmann