Den Vorwurf, viel zu spät - manche meinen sogar, mit einem Jahr Verzug - mit der Erhöhung der Leitzinsen begonnen zu haben, wird die EZB nicht mehr los. Doch seit Sommer 2022 kennt die Zinskurve nur eine Richtung: mehr oder weniger steil nach oben.

Ob die Europäische Zentralbank heute noch einmal nachlegen wird und die Leitzinsen zum zehnten Mal in Folge erhöht werden - von 4,25 auf 4,5 Prozent für die Ausleihungen von Geschäftsbanken bei der EZB bzw. der Einlagenzinssatz von 3,75 auf 4,0 Prozent - ist selbst kurz davor völlig offen. Die Entscheidung des EZB-Rats wird heute, Donnerstag, um 14.15 Uhr bekannt gegeben, ab 14.45 erklärt EZB-Präsidentin Christine Lagarde die Entscheidung der Öffentlichkeit - und blickt in die Zukunft.

Drei mögliche Entscheidungen sind heute vorstellbar - eine Senkung des Leitzinses, des höchsten seit dem Beginn der Finanzkrise 2008 - hat Lagarde schon ausgeschlossen. "Wir werden die Daten analysieren und dann eine Entscheidung treffen", erklärte Lagarde im Juli. Die Datenanalyse, die eine weiterhin hohe Inflation ausweist (die auch deutlich langsamer sinkt als erhofft), könnte zu drei Schlussfolgerungen führen:

1. Die EZB hebt heute den Leitzinssatz erneut um 0,25 Prozent an

Dafür spricht, dass sich Inflation im Euro-Raum mit 5,3 Prozent als hartnäckig erweist und auch die Kerninflation, die besonders volatile Lebensmittel- und Energiepreise ausspart, weiterhin hoch ist (ebenfalls bei 5,3 Prozent). Befürworter einer weiteren Zinserhöhung - sogenannte "Falken" - führen ins Treffen, dass es noch zu früh für eine Zinspause sei, und sich die Inflation weiter verhärtet bzw. noch mehr in die Länge zieht, wenn nicht entschieden eingegriffen wird.

2. Die EZB belässt die Zinsen auf dem aktuellen Niveau, stellt aber weitere Zinserhöhungen in den Raum

Würde die EZB ein Zins-"Plateau" einziehen und in der Folge eine zweite Welle an Zinserhöhungen in Aussicht stellen, hätte das den Vorteil, dass die Wirkung der vergangenen Zinsanhebungen abgewartet werden könnte. Sollte sich die Inflation weiter als so hartnäckig erweisen, würden weitere Zinserhöhungen folgen (müssen).

3. Die EZB legt eine Zinspause ein, gibt aber das Signal, die Zinsen bleiben länger auf dem derzeitigen Niveau

Europa befindet sich am Rande einer Rezession, die Wirtschaft ist schwer unter Druck, weil sich im Zuge der Leitzins-Anhebungen Kredite massiv verteuerten und die Nachfrage stark gesunken ist. Der Wirtschaftsmotor stottert nicht nur, er ist bereits abgekühlt. Das soll, so der Plan, dämpfend auf die Preise wirken. Doch dieser Plan ist augenscheinlich noch nicht in ausreichendem Maße aufgegangen.

Der Finanzmarkt erwartet, dass die Zinsen nach Erreichen des Zinsgipfels zeitnah wieder gesenkt werden. Unverändert hohe Zinsen wirkten zudem als Mühlstein um den Hals der Wirtschaft, außerdem bleibt offen, wann die USA den Rückwärtsgang in ihrem Zinsstakkato einlegen - Europa könnte sich davon nicht vollends entkoppeln.

Das Fazit: Unabhängig davon, für welche der drei Varianten sich heute die Ratsmitglieder im Frankfurter EZB-Tower entscheiden, die Notenbanker müssen am 14. September zwischen Pest und Cholera wählen, um noch Übleres zu bekämpfen. Das Inflationsgeschwür hat sich in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft breitgemacht, es wuchert deutlich konsequenter und tiefergehender als man es erwarten musste. Es wird zumindest noch zwei oder drei Jahre dauern, bis die Inflationsrate im Euro-Raum wieder in die als "Preisstabilität" definierte 2,0-Prozent-Zone sinkt.

Werden jetzt die falschen "Medikamente" verabreicht, kann sich die Teuerung noch weiter verfestigen. Gleichzeitig muss die Wirtschaft am Laufen gehalten werden, eine zu effektive Anti-Teuerungs-Therapie kann zwar die Inflation deutlich drücken, der Preis dafür wäre das Ersticken jeglicher Konjunktur.