Auch in Alpbach lassen die Unwetter über Tirol keinen Zweifel an der Klimaverwundbarkeit. Das Tagungsthema "Bold Europe / Kühnes Europa" gilt allenthalben für die im Dauereinsatz stehenden Tiroler Feuerwehrleute. Über dem Europäischen Forum 2023 zogen schon am Wochenende Gewitter zur Zukunft Europas auf. "Die Welt brennt. Sie wird regiert von Macht, Geld und Penissen", ließ Sandrine Dixson-Declève, Vizepräsidentin des Club of Rome, drastisch eine buchstäbliche Brandrede vom Stapel, als am Podium diskutiert wurde: "Warum Frauen die Welt leiten sollten". Wo Frauen am Entscheidungstisch stehen würden, gebe es nachweislich mehr Klimaschutz-Aktivitäten und länger haltende Friedensabkommen. "Patriarchat zerschlagen, Emissionen reduzieren?" – wurde am Montag nachgesetzt.
Doch weder Umweltministerin Leonore Gewessler noch Dixson-Declève oder die hochkarätigen Runden gingen in die Gender-Falle. "Wir brauchen", fasste Jana Degrott, luxemburgische EU-Abgeordnete und Gründerin der Frauen-Kaderschmiede "We Belong Europe", zusammen, "diverse Führungsteams mit Frauen wie mit Männern, aber mit mehr Empathie und weniger Testosteron." Akut auch bei den Kandidatenlisten für die EU-Wahlen in neun Monaten.
Treichls einzige Hoffnung
In Alpbach wird wie immer der Zeit auf den Puls gefühlt. Und der stockt gewaltig, wie Forum-Präsident Andreas Treichl diagnostiziert: "Wir stehen in Europa seit 15 Jahren an einem totalen Stillstand. Ich glaube, dass wir mit dem aktuellen Set-up des politischen Systems nicht die Chance haben auf ein stärkeres und besseres Europa. Ich habe die Hoffnung in die Generation des mittleren Alters aufgegeben, dass wir das ändern können. Meine Hoffnung ist die junge Generation, um Europa zurück auf eine erfolgreiche Spur zu bringen", konstatierte Treichl vor 400 Postgraduates, die aus allen Erdteilen nach Alpbach eingeladen waren. "Das Einstimmigkeitsprinzip muss abgeschafft werden", appelliert Treichel flammend. Drei Tage lang ließen die Jungen bei den erstmaligen "Lab Days" ihre Köpfe für ein kühnes Europa rauchen, vor allem auch für ein friedliches Europa.
Dystopisches Europa 2028
Für das Labor "Jugend und Demokratie" hat die amerikanisch-niederländische Zukunftsforscherin Regina Joseph ein dystopisches Bild Europas im Jahr 2028 entworfen: der Ukraine-Krieg anhaltend an eingefrorenen Fronten ("Frozen War"), die Unterstützung Europas aus Furcht vor russischem Nuklearkrieg erodiert, die Finanzmärkte zunehmend instabil, Nahrungsmittelkrisen in Afrika und Europa, zunehmende Faschismustendenzen, die Jugend von US- und China-Oligarchen auf Social Media irreal geblendet, der mit dem Klimawandel steigende Migrationsdruck von Süd nach Nord ein Kochtopf lokaler Bürgerkonflikte. Mit Künstlicher Intelligenz lasse sich da gar nichts lösen, warnte Joseph, die als "Superpredictor" das US-Marine-Corps strategisch berät.
Drei Tage lang trafen die Jungen fiktiv Entscheidungen nach rückwärts, von einem TikTok-Verbot bis zu aktuellen AI-Gesetzen der EU, von der Transmission der großen CO₂-Verursacher bis zu Friedensinitiativen. Aus der Ukraine, berichteten Dixson-Declève und die Alpbach-Kultur-Gastkuratorin Yana Barinova aus Kiew, würden zunehmend Stimmen von Frauen herangetragen, beim Wiederaufbau des Landes auch die ausgeprägt patriarchalischen Strukturen zu überwinden. Barinova hat sich mitten im Krieg nicht unterkriegen lassen, als sie während der zehntägigen Evakuierung ihrer Tochter nach Wien von der Stadt Kiew gefeuert wurde. Nach sechs Monaten Prozess musste die Stadt beigeben, "Vitali Klitschko hat eine Niederlage erlitten. Ich wurde dafür angefeindet, aber europäische Frauenrechte müssen auch im Krieg gelten".
Adolf Winkler