"Shoppen wie ein Milliardär" lautet der Slogan. Doch wer die App öffnet, kommt sich vor wie auf einem Messe-Abverkauf.
Rufzeichen, Rabatte und "Blitzangebote" entladen sich vor den Augen der Konsumenten. Die Startseite: ohne Struktur. Die Produktkategorien: wild durcheinander. Fünf Paar Socken leuchten um 0,39 Euro auf, eine Knoblauchpresse um 1,45 Euro, eine Silikon-Smartwatch um 1,88 Euro, ein Taillenrock um 2,67 Euro.
Die Marktschreierei für den Online-Shop Temu ist vor allem auf Social Media nicht zu überhören. Zu Weihnachten ist der lauter denn je. Schon zuvor stürmte Temu die App-Charts. Was ganz im Sinne des chinesischen Erfinders ist, der nichts Geringeres vorhat, als das Einkaufen im Internet zu revolutionieren. Ernst zu nehmen? Vermutlich ja.
Temu ist seit 2022 in den USA präsent und versucht seit Mitte 2023 intensiv, sich auf dem europäischen Markt zu etablieren. Dahinter steckt Pinduoduo (auch PDD) aus Schanghai, eines der größten und erfolgreichsten E-Commerce-Unternehmen in China. Der Besitzer: Huang Zheng bzw. Colin Huang, wie er sich mit englischem Namen nennt. Der chinesische Arbeitersohn hat in den USA studiert und unter anderem für Microsoft und Google gearbeitet. Nach seiner Rückkehr nach China gründete er einen Internetversandhandel, den er nun zu erweitern versucht – über das Sortiment und über den Globus. Der Gang von Pinduoduo an die New Yorker Börse hat Huang zum Milliardär gemacht. Zum Schnäppchen-Milliardär.
Ab-Werk-Verkauf
Sein Clou: Temu ist kein einfacher Online-Marktplatz, sondern eine Plattform – ähnlich wie Amazon, nur ohne eigene Vertriebszentren und Lager. Anstatt als Verkäufer aufzutreten, fungiert Temu als Vermittler, der es Händlern ermöglicht, ihre Produkte direkt den Endkunden anzubieten. Eine Art Emanzipation der chinesischen Produzenten, die über Temu ohne Zwischenhändler nach Europa liefern können. Hersteller zum Verbraucher (Manufacturer to Consumer) nennt sich das Prinzip.
Tatsächlich kommen die bestellten Produkte in der Regel geradewegs aus den Fabriken der Hersteller, was die Kosten und dadurch die Preise auf der Plattform reduziert. Zudem ermöglicht dieses System die enorme Produktvielfalt von Mode, Elektronik über Haushaltswaren bis zu Spielzeug. Für die Kunden wiederum bedeutet es, dass sie nicht wissen, bei welchem Händler sie bestellen.
Community-Effekt: Gemeinsam wird's günstiger
"Sendungen mit geringem Wert"
Auf 61 Milliarden Bestellungen im Jahr kommt Temu laut eigener Auskunft aktuell. Die Kundschaft ist teils zufrieden, teils bemängelt sie die wochenlangen Lieferzeiten und das unzureichende Kundenservice. Auch die Produktsicherheit wird bemängelt. Auf einen Kaufvertrag mit Temu kann man nicht pochen: Man schließt ihn mit dem Anbieter des Produktes. Mit dem Datenschutz geht Temu locker um. Die App möchte den Zugriff auf Nutzerdaten. Nicht nur diese Umstände führen immer wieder zu Kritik von Verbraucherschutzverbänden.
Zollgebühren? Auch diese "Hürde" umgeht Temu geschickt, indem die Bestellungen per Post und aufgeteilt in Pakete mit Werten unter 150 Euro verschickt werden. Für solche "Sendungen mit geringem Wert" fällt laut dem Weltpostvertrag kein Zoll an. Die Kunden freuen sich über den Gratisversand. Freilich ist das Schnäppchen-Paradies teuer erkauft, Temu erwirtschaftet zunächst Verluste, Millionenverluste, kann aber rapide seine Marktanteile vergrößern.