Im Münchner Wirecard-Prozess fordern die Verteidiger des gebürtigen Österreichers und Ex-Vorstandschefs Markus Braun die Freilassung des seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Managers. Rechtsanwalt Alfred Dierlamm beantragte am Donnerstag vor dem Landgericht München I neben der Aussetzung des Haftbefehls erneut die Aussetzung des gesamten Prozesses und warf der Justiz schwere Fehler vor.
Der Verteidiger sprach von einer "Farce". "Eine Auswertung der Zahlungsflüsse (bei Wirecard) hat faktisch nicht stattgefunden."
"Auch nach über drei Jahren Verfahrensdauer haben die Justizbehörden das wahre Tatbild und die Veruntreuungen von Wirecard-Vermögen in Millionenhöhe nicht – nicht einmal ansatzweise – aufgeklärt", sagte Dierlamm. "Im Gegenteil: Sie tun alles, um das falsche Narrativ von Herrn Dr. Braun als 'Bandenchef' aufrechtzuerhalten."
"Tatbild ist erwiesenermaßen falsch"
Die Staatsanwaltschaft hat in den vergangenen drei Jahren bei jeder Prüfung die Verlängerung der Untersuchungshaft beantragt, nun wollen die Ankläger innerhalb einer Woche Stellung zur Aussetzung des Haftbefehls nehmen. Eine Aussetzung des Verfahrens hatte das Gericht bereits im Jänner abgelehnt – und diese Entscheidung am Donnerstag bekräftigt, bevor Anwalt Dierlamm zum zweiten Mal die Aussetzung forderte.
Laut Anklage sollen Braun und Komplizen Milliardenumsätze mit sogenannten Drittpartnerfirmen (TPA) erfunden haben, die im Auftrag von Wirecard Kreditkartenzahlungen in asiatischen Ländern abwickelten.
Im Vertrauen auf die angebliche hohe Profitabilität gewährten die Banken dem Konzern Kredite in Höhe von gut drei Milliarden Euro, mit der Insolvenz ging ein großer Teil dieser Darlehen verloren. Wesentliche Grundlage der Anklage sind die Aussagen des Kronzeugen Oliver Bellenhaus, ehedem Wirecard-Geschäftsführer in Dubai.
"Dieses Tatbild ist erwiesenermaßen falsch, weil es von einem falschen Tatmotiv, von einer falschen Tatstruktur und einer falschen Bandenzusammensetzung ausgeht", sagte Verteidiger Dierlamm. Brauns Verteidiger wollen belegen, dass der seit Sommer 2020 untergetauchte Vertriebsvorstand, der Österreicher Jan Marsalek, Kronzeuge Bellenhaus und zahlreiche Mittäter die Schurken waren, Braun hingegen ahnungsloses Opfer. Laut Verteidigung soll diese Bande ohne Beteiligung oder Wissen Brauns zwei Milliarden Euro aus echten Geschäften veruntreut haben.
"Herr Dr. Braun tut alles, was in seiner Situation möglich ist, um das wahre Tatgeschehen aufzuklären, und wird dies auch weiterhin tun", sagte Dierlamm. "Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist unverhältnismäßig."
Prozess dürfte erheblich länger dauern
Absehbar ist schon jetzt, dass der Prozess erheblich länger dauern könnte als die bis Jänner eingeplanten 100 Verhandlungstage. Der Vorsitzende Richter Markus Födisch erklärte in einer Randbemerkung einen Abschluss vor Ende 2024 für "realistisch".
Das Verfahren geht nun nach 58 Prozesstagen in die erste längere Pause seit dem Auftakt im vergangenen Dezember, der nächste Prozesstag ist der 30. August.
Brauns Verteidiger warten weiter auf eine Entscheidung des Gerichts über einen Berg von weit über 400 Beweisanträgen, mit denen die Anwälte die Unschuld ihres Mandanten belegen wollen.
An der Ausgangssituation hat sich seit dem Prozessauftakt am 8. Dezember 2022 quasi nichts geändert: Braun beteuert seine Unschuld, seine Verteidiger beschuldigen den Mitangeklagten und Kronzeugen Oliver Bellenhaus als Lügner. Der frühere Wirecard-Chefbuchhalter als dritter Angeklagter schweigt.
Schriftliche Belege fehlen
Genaueres über Brauns Aktivitäten wusste bisher keiner der vielen Zeugen zu berichten. Schriftliche Belege, dass der österreichische Manager seine Untergebenen zu kriminellen Handlungen angestiftet oder davon gewusst hätte, fehlen ebenfalls. Stattdessen zeichneten die Zeugen bisher das Bild eines Vorstandschefs, der sich um das Tagesgeschäft nicht kümmerte oder nicht kümmern wollte, sondern dies weitgehend Marsalek überließ.
Vorwürfe, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehe, gab es schon mehr als ein Jahrzehnt vor der Insolvenz, doch ehedem pflegte Braun jegliche Kritik in Bausch und Bogen abzutun.
Keine Spur zu den vermissten Milliarden
Wirecard wickelte an der Schnittstelle zwischen Händlern und Banken Kreditkartenzahlungen ab. Im Prozess deutlich geworden ist auch, dass der einst als deutsches Technologiewunder geltende Konzern bis zum Schluss als Dienstleister Zahlungen von Glückspiel-Anbietern und Sex-Webseiten abwickelte: "Pornografie war ganz normal bei uns", gab ein ehemaliger Mitarbeiter der internen Revision im Zeugenstand zu Protokoll.
Marsalek und Co soll es demnach gelungen sein, Kunden und Drittpartner-Umsätze heimlich in ein eigenes Geflecht von Schattenfirmen umzuleiten, ohne dass Braun und die ehrliche Mehrheit der Wirecard-Belegschaft davon Wind bekommen hätten.
Allerdings haben die Zeugen bisher auch keine Hinweise geliefert, dass Wirecard-Mitarbeiter jemals Kunden oder Interessenten an Drittfirmen vermittelt hätten, ob echte oder falsche. "Keiner kannte die TPA-Partner, und keiner wusste, was da vermittelt werden sollte", sagte dazu der frühere Revisor.
Auch Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bisher keine Spur der vermissten Milliarden gefunden. Der Münchner Anwalt war noch nicht als Zeuge geladen, seine Aussage könnte ein Schlüsselmoment des Prozesses werden.