Kurz vor dem Kollaps des von Österreichern geführten deutschen Skandalkonzerns Wirecard hat Ex-Vorstandschef Markus Braun dem mutmaßlichen Hauptverdächtigen Jan Marsalek den passenden Vorwand für die Flucht ins Ausland geliefert. Ex-Produktvorständin Susanne Steidl schilderte am Donnerstag als Zeugin im Wirecard-Prozess die dramatischen Tage im Juni 2020, als klar wurde, dass 1,9 Mrd. Euro angeblich auf den Philippinen verbuchter Firmengelder unauffindbar waren.
Steidl zufolge wurde sowohl ihr selbst als auch Finanzvorstand Alexander von Knoop erst damals der Ernst der Lage klar. Die 1,9 Milliarden waren angeblich auf philippinischen Treuhandkonten verbucht. Die dortige Bank informierte jedoch den Konzern, dass die Unterschriften unter den Verträgen gefälscht waren.
"Jan, Du musst in die Philippinen fliegen"
Der Finanzvorstand sei dann in ihr Büro gekommen, berichtete Steidl. "Susanne, guck mal, wir haben ein Problem", habe von Knoop gesagt. "Ab dem Moment war Krise", erinnerte sich die Managerin weiter. Im Wirecard-Vorstand zuständig für Asien war Marsalek. Vorstandschef Braun habe dann gesagt: "Jan, Du musst in die Philippinen fliegen." Dort sollte Marsalek das Problem demnach persönlich klären. Aus Steidls Aussage lässt sich nicht ableiten, dass Braun Marsalek bewusst einen Fluchtvorwand lieferte - dazu sagte sie nichts.
Am 18. Juni 2020 wurde Marsalek suspendiert. "Er hat sich dann von mir verabschiedet, er fliegt in die Philippinen und wir sehen uns in zwei Wochen", sagte Steidl. Doch reiste Marsalek dort nie ein. Stattdessen soll sich der Manager über Belarus nach Russland abgesetzt haben, er wird per Haftbefehl gesucht. Braun hingegen stellte sich der Justiz, ebenso der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Beide sitzen nunmehr seit drei Jahren in Untersuchungshaft.
Milliarden-Schaden
Laut Staatsanwaltschaft erdichtete eine Betrügerbande bei Wirecard unter maßgeblicher Beteiligung Brauns und Marsaleks Scheingeschäfte in Milliardenhöhe. Den Schaden für die Kreditgeber des Konzerns beziffern die Ermittler auf mehr als drei Milliarden Euro. Die Anklage fußt wesentlich auf den Aussagen des mitangeklagten Kronzeugen Oliver Bellenhaus, ehedem Wirecard-Manager in Dubai.
Nach Darstellung Brauns waren sowohl Geschäfte als auch Erlöse echt. Stattdessen sollen Marsalek, Bellenhaus und Komplizen zwei Milliarden Euro aus dem Konzern abgezweigt und veruntreut haben.
Wie geht das Gericht mit Marsalek-Brief um?
Marsalek hat dem Gericht kürzlich über seinen Anwalt einen aufsehenerregenden Brief zukommen lassen, in dem er den einstigen Mitarbeiter und Kronzeugen Bellenhaus als Lügner beschuldigt. Daher misst Brauns Verteidigung dem Brief große Bedeutung zu.
Die Richter wollen aber erst nach Bedenkzeit entscheiden, ob sie das Schreiben als "schriftliche Zeugenerklärung" für die Beweisaufnahme zu den Akten nehmen. "Das werde ich nicht in der Nacht übers Knie brechen", sagte der Vorsitzende Richter Markus Födisch. Die Verteidigung des Kronzeugen hat das Marsalek-Schreiben für "Blödsinn" erklärt.