Reisen erweitert den Horizont – bedingt aber nicht zwangsläufig, an Bord eines Flugzeugs zu steigen. Immer mehr Menschen bleiben bewusst am Boden, überqueren Grenzen mit Bus, Bahn und auf den Beinen, meint Karin Riess.
Mit einem Schlag war unsere Welt winzig. Aber wenn die Coronakrise ein Gutes hatte, dann dass uns die in die Ferne gerückte Ferne weniger den Blick auf die nahe liegende Nähe verstellte. Auf das Einzigartige gleich ums Eck. Auf das nur einen Katzensprung entfernte Kleinod. Auf die Naturschönheit von nebenan. Die letzten Jahre dokumentieren auch in eindrucksvoller Form, wie unabdingbar der Urlaub für viele Menschen ist – komplexe Einreisebestimmungen hin, Teuerung her: 78 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher planen laut dem Reisemonitor des ÖAMTC im Sommer zu verreisen, 57 Prozent zieht es ins Ausland.
Aus dem Alltag aussteigen, Erholung suchen und Entspannung finden – beim klassischen Urlaub ist die Entfernung vom Heimatort in Wahrheit zweitrangig. Wer aber gerne reist, für wen der Weg wichtiger ist als das Ankommen und das Erleben, das Entdecken den eigentlichen Reiz darstellt, für den wird es ohne physische Grenzüberschreitung auf Dauer zu eng.
Dennoch ist es nicht so, dass alle (wenn auch viele) Menschen, für die der Flug in die Ferien längst selbstverständlich war, im Sommer automatisch an die Check-in-Schalter am Flughafen zurückkehren. "Terranes Reisen" liegt im Trend, also solches, bei dem man am Boden bleibt – Marketingabteilungen haben längst einen Begriff für diese potenziellen Kunden parat. Nein, sie sind nicht die Mehrheit, aber es werden mehr.
Mit der Kraft des eigenen Körpers
Jedes Jahr werden zig nationale oder grenzüberschreitende Weitwanderwege eröffnet, neue Fernradwege eingeweiht. Investitionen in sanften Tourismus, die keine Region tätigen würde, wenn die Nachfrage der Gäste nicht vorhanden wäre. Immer mehr Menschen reisen mit der Kraft des eigenen Körpers.
Junge Menschen, die nie mit Erzählungen gruseliger Kaffeefahrten konfrontiert waren, erzählen, wie sie ohne Federlesen mit dem komfortablen und klimatisierten Fernbus in die Ferien gefahren sind. Eltern berichten von Zugreisen in den Urlaub mit den Kindern im Schlafwagen – und dass sie (nicht nur Klein, auch Groß) sofort wieder einsteigen würden.
Überlastung vieler Zugstrecken in Europa
Dass immer mehr Menschen den Anteil der CO₂-Bilanz am Urlaubsgepäck geringer gestalten wollen, dokumentiert nicht zuletzt die Auslastung, ja die Überlastung vieler Zugstrecken in Europa. Oder das Bedauern beim Durchforsten der Buchungsplattform, dass es sie gar nicht gibt. Diese Ambitionen müssen so schnell wie möglich auf Schiene gebracht werden. Sie dulden keine weitere Verspätung.
Die Kraft der Langsamkeit erschließt uns das richtige Maß aus Verharren, Bewegung, Neugier und Reflexion. Höhenmeter haben mehr zu bieten als Flugmeilen, denn der Vorrat an Sensationen vor der Haustür ist unendlich groß, meint Ernst Sittinger.
Niemand wird die Vorzüge des Reisens bestreiten: Es bildet, weitet den Horizont, verbindet die Völker und vertieft das Verständnis für andere Lebensweisen. Außerdem ist das Verreisen für die meisten Menschen ein großes Vergnügen und daher eine bevorzugte Freizeitbeschäftigung in der Langeweile- und Amüsiergesellschaft.
Die Reiseverweigerung hingegen ist eine Provokation und als Abweichung von der Norm gesondert begründungsbedürftig. Sie wird beantwortet mit sozialer Verachtung: Wer nicht verreist, stellt sich in den finsteren Verdacht des Engstirnigen, Bornierten und Provinziellen.
Trotzdem – oder gerade deshalb – müssen wir uns fragen, ob unser Reiseverhalten noch verträglich und verkraftbar ist. Bei weltweit 1,5 Milliarden "Ankünften" pro Jahr und stark wachsenden Märkten liegt die Vermutung nahe, dass der globale Übertourismus schon jetzt eine Pandemie darstellt, die auf vielen Gebieten mehr Probleme erzeugt als löst.
Der inneren Leere "entfliegen"
Dahinter stehen Fragen der Gerechtigkeit, konkret der Verteilung von Reiseressourcen. Wenn künftig 500 Millionen Menschen aus der chinesischen Mittelschicht den westlichen Reiselebensstil übernehmen, wird es an den Flughäfen nicht gemütlicher werden. Ob die Erde täglich 200.000 Flüge aushält, soll jeder für sich selbst beantworten.
Es geht nicht ums schlechte Gewissen und schon gar nicht um ein Plädoyer für "Stillbeschäftigung daheim". Sondern um eine Einladung zu neuen, zukunftsfesten Formen des Reisens, Forschens, Entdeckens. Erst die Kraft der Langsamkeit eröffnet uns das richtige Maß aus Verharren, Bewegung, Neugier und Reflexion.
Mit dem Düsenjet können wir vielleicht der eigenen, inneren Leere entfliehen und "entfliegen". Wer aber zu Fuß durch Naturräume streift, wer sich dem trägen Rhythmus der Wildnis und der Witterung fügt, kann in seiner allernächsten Umgebung ganz neue Horizonte erschließen.
Höhenmeter haben oft mehr zu bieten als Flugmeilen
Die wahren Abenteuer sind natürlich nicht nur im Kopf, aber sie warten auch nicht unbedingt immer an den fernsten Stränden. Höhenmeter haben oft mehr zu bieten als Flugmeilen. Wir haben das Glück, im Alpenraum zu leben. Der hier schlummernde Vorrat an Sensationen ist weit größer als das, was man im Lauf eines langen Menschenlebens für sich erfahrbar machen kann. Das Gute liegt also nahe. Wer sein Fernweh etwas zügelt und vielleicht nur bei jeder zweiten Gelegenheit seine Koffer packt, ebnet den Weg zu einem besseren Leben für uns alle.