Sie sagten, eine Lösung des Ukraine-Kriegs wird es nur ohne Putin geben. Sie sehen gar keine Alternativen?
CHRISTOPH HEUSGEN: Wir haben gesehen, dass Wladimir Putin zu keiner diplomatischen Lösung bereit ist und sich nicht an Verträge hält. Einem Putin, wenn er denn an der Macht bleibt, wird man nicht glauben können. Das heißt, ein Vertrag mit Putin ist letztlich nicht das Papier wert, auf das er geschrieben ist. Wenn er an der Macht bleibt, muss man damit rechnen, dass Russland nach einer Konsolidierung erneut die Ukraine angreift. Deswegen wird man auf andere Maßnahmen setzen müssen: Die Ukraine zu einem Nato-Mitglied werden lassen oder mit Waffen vollstopfen und mit Sicherheitsgarantien ausstatten.
Seit wann ist die Erkenntnis, dass man Putin nicht trauen kann, gereift?
Wir haben im Februar 2015 mit dem Minsker Abkommen einen diplomatischen Weg ausverhandelt, mit dem man aus der Krise hätte herauskommen können. Aber am 24. Februar 2022 hat Putin entschieden, dass er den Weg der Diplomatie verlässt und den der Gewalt einschlägt. Heute steht er allerdings vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Er ist weitgehend isoliert und zur Tankstelle Chinas verkommen.
Sie meinten, die Beziehungen Deutschland bzw. der EU zu Russland seien reparabel, aber erst nach dessen "Deputinisierung". Kann es in absehbarer Zeit dazu kommen?
Derzeit sehe ich nur eine Lösung als Perspektive, wenn die Ukraine eine erfolgreiche Gegenoffensive unternimmt und Putin endlich versteht, dass er seine Kriegsziele nicht erreichen kann. Erst dann hat Diplomatie wieder eine Chance.
Wenn Putin entmachtet wird?
Das muss aus Russland selbst kommen. Wir verfolgen ja bereits das innenpolitische Schauspiel heftiger Streitereien zwischen dem Chef der Wagner-Miliz und dem Verteidigungsminister. Aber diese Auseinandersetzungen erwecken noch nicht den Eindruck eines kurz bevorstehenden Umsturzes. Umbrüche hat es in der sowjetisch-russischen Geschichte schon gegeben: Chruschtschow und Gorbatschow mussten abtreten, Jelzin hat seine Macht übergeben. Und man kann nicht ausschließen, wenn die Eliten und die Bevölkerung Putins überdrüssig sind, dass seine Absetzung erfolgt.
Um ein Patt am Schlachtfeld zu verhindern, müsse man bei der Militärhilfe aufs Ganze gehen, sagten Sie. Sind Kampfpanzer und Kampfjets schon "das Ganze"?
Man ist jetzt bei den Waffen, die der Ukraine ermöglichen sollen, ihr Territorium wiederzuerobern, schon sehr weit gekommen. Jetzt geht es darum, das zu konsolidieren und die Munition zu liefern und daraufzusetzen, dass die Ukraine erfolgreich ist.
Was kommt nach den Kampffliegern?
Zuerst geht es um die MiG, in einigen Wochen oder Monaten um die F-16. Was z. B. Deutschland, das weder über MiGs noch über F-16 verfügt, leisten kann, ist, diese Flugzeuge mit wirkungsvollen Taurus-Marschflugkörpern auszustatten.
Viele fürchten, Waffenlieferungen verschlimmern die Lage noch, es ist von Kriegstreiberei die Rede. Was entgegnen Sie?
Allein Russland steht für Kriegstreiberei. Wir erleben jeden Tag, mit welcher Brutalität und Unmenschlichkeit die Russen agieren. Und man darf nicht vergessen: Die Ukrainer verteidigen auch die Freiheit der Nato-Staaten. Putin und Lawrow wollen die Sowjetunion wiederherstellen. Sie blicken schon auf die Republik Moldau und die baltischen Staaten. Wenn sich die Ukraine nicht erfolgreich verteidigt, wird sich Putin möglicherweise auch an Nato-Staaten heranmachen. Wenn wir keine Waffen liefern, wird Putin weiter eskalieren.
Sie treten für ein Sondertribunal gegen Putin ein. Kürzlich meinte Henry Kissinger, es wäre keine so gute Idee, Putin vor ein internationales Gericht zu stellen.
Ich schätze Kissinger sehr. Er war lange gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine, jetzt ist er dafür. Ich hoffe sehr, dass er auch in Bezug auf die Strafverfolgung Putins umdenkt. Putin verübt schwerste Kriegsverbrechen, er bombardiert willkürlich Krankenhäuser, Städte und Dörfer, er bringt Zivilisten um, lässt Kinder entführen und zwangsadoptieren. Wenn er dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird – welche Botschaft geht davon an andere Diktatoren aus? Und schulden wir es nicht den Zehntausenden Opfern russischer Aggression, dass Putin vor Gericht gestellt wird?
Für Kissinger ist Russland nicht allein schuld am Ukraine-Krieg, eine Reihe von Ereignissen hätten dazu geführt.
Die Schuldfrage ist eindeutig. Es wird immer wieder vorgeworfen, dass die Nato Russland zu Leibe gerückt sei. 2004 hat die letzte Nato-Osterweiterung stattgefunden; damals hat das Putin gutgeheißen. Erst später, als er seine Politik änderte, hat er es zum Vorwurf gemacht. Aber hätten wir denn ernsthaft Polen oder den baltischen Staaten, die aufgrund der Schuld Nazi-Deutschlands unter das sowjetische Joch geraten waren, sagen sollen, sie dürften sich aufgrund russischer Empfindlichkeiten keinem Bündnis anschließen? Ich halte dies für völlig unangebracht.
Halten Sie es für möglich, dass es zum Einsatz taktischer Atomwaffen kommt?
Seitdem es Atomwaffen gibt, muss man fürchten, dass sie eingesetzt werden. Putin schürt unsere Angst davor. Ich halte einen Einsatz allerdings für höchst unwahrscheinlich, weil die Unterstützung, die Putin jetzt noch erhält, vor allem von China, wegfallen würde. Auch die Amerikaner haben klargemacht, sie würden darauf massiv reagieren. Putin wird ein solches existenzielles Risiko nicht eingehen.
Wie sehen Sie die Rolle Österreichs, das sich zwar humanitär für die Ukraine einsetzt, sich aber sonst gerne auf seine Neutralität beruft. Kann man jetzt überhaupt neutral sein?
Ich habe für diese Zurückhaltung aufgrund der Geschichte Ihres Landes ein gewisses Verständnis, auch dafür, dass Österreich der Nato nicht beitritt. Aber Neutralität ist ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert. Wenn ein großes Land und Gründungsmitglied der UNO die internationale Ordnung so massiv verletzt wie Russland, kann man als Österreich nicht neutral sein. Gerade Österreich, das sich um einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bewirbt, muss die Charta der Vereinten Nationen verteidigen und deshalb bei Sanktionen und Lieferung von Waffen und Munition an die Ukraine dabei sein.
In Österreich entbrannte ein Streit, ob eine Entsendung von Soldaten zur Entminung in der Ukraine mit der Neutralität vereinbar sei – können Sie nachvollziehen, dass die Regierung dagegen ist?
Ich habe kein Verständnis, wenn man sich weigert, an einer eindeutig humanitären Aktion teilzunehmen.
Mit Bundesheer-Soldaten in einem kriegsführenden Land?
Da hätte ich keine Bedenken. Natürlich dürfte eine solche Aktion nicht in der Nähe der Frontlinie erfolgen.
Was würde eine Wiederwahl Trumps im November 2024 in Bezug auf die US-Unterstützung der Ukraine ändern?
Ich hoffe sehr, dass bis zu den Wahlen in den USA dieser Krieg zu Ende ist. Ich setze aber darauf, dass Amerika die Ukraine so lange unterstützt, wie es notwendig ist. Wir müssen aber als Europäer unser Schicksal in die eigene Hand nehmen. Russlands brutaler Krieg in Europa muss ein Weckruf für Europa sein, außen-, sicherheits- und verteidigungspolitisch stärker zu werden. Wir müssen vorbereitet sein auf einen Moment, in dem ein US-Präsident sagt, eine bestimmte Krise in Europa oder in unserer Nachbarschaft müssen wir selbst lösen.
Was stimmt Sie trotz all der Krisen positiv?
Wir sehen, wie Freiheit und Demokratie in der Ukraine die Bevölkerung zu unglaublichen Leistungen motiviert, wie stark die Unterstützung europaweit in Hinblick auf Aufnahme von Flüchtlingen und Waffenlieferungen ist. Wir müssen aber durchhaltefähig bleiben: Die Freiheit muss stärker sein als die Tyrannei.