Ihr aktueller Befund zur Konjunktur lautet, dass die Lage derzeit nicht so rosig ist, wie man sich das wünschen würde. Spiegelt sich das mittlerweile auch am Arbeitsmarkt wider, ist der zweite monatliche Anstieg in Folge ein erstes zartes Alarmsignal?

MARTIN KOCHER: Wir sind am Anfang des Jahres davon ausgegangen, dass die Arbeitslosigkeit auch im Jahresschnitt leicht steigen wird. Das bewahrheitet sich jetzt. Wobei der Anstieg glücklicherweise tatsächlich moderat ausfällt. Und natürlich ist das neben Konjunktur und Inflation auch auf Sondereffekte zurückzuführen.

Welche?

Eine Rolle spielt der vor Kurzem umgesetzte völlig freie Arbeitsmarktzugang für vertriebene Ukrainerinnen und Ukrainer, der sich jetzt auch in der Statistik widerspiegelt, wo sie seit 21. April erfasst werden. Unter den österreichweit rund 9000 zusätzlichen Arbeitslosen und Schulungsteilnehmern Ende Mai sind etwa 4400 Vertriebene aus der Ukraine.

Wie stehen deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

Sie sind sicher gut integrierbar. Ich rufe die Ukrainerinnen und Ukrainer auch auf, sich beim AMS registrieren zu lassen. Sie fallen dadurch auch nicht aus der Grundsicherung, das ist wichtig zu erwähnen.

Aus Teilen der Industrie, vor allem aber aus der Bauwirtschaft, sind derzeit wenig erfreuliche Nachrichten zu vernehmen. Gibt es da auch Branchen, die aus Ihrer Sicht auf dem Arbeitsmarkt in die Kategorie "Sorgenkind" fallen?

Es gibt natürlich große Unterschiede, sowohl zwischen den Branchen als auch innerhalb der Branchen. Das heißt, wir haben eine Entwicklung, die jetzt durch die Konjunktur, durch Unsicherheiten geprägt ist. Gleichzeitig haben wir trotzdem viele Betriebe, die Arbeitskräfte suchen. Wir beobachten weiterhin, dass viele Unternehmen, ihre Beschäftigten, solange es irgendwie geht, halten möchten. Auch in schwierigen Zeiten. Weil sie wissen: Wenn sich die Lage wieder verbessert, dann ist es womöglich nicht so einfach, die nötigen Mitarbeiter wiederzufinden.

Die Arbeitslosigkeit steigt leicht, die offenen Stellen gehen etwas zurück. Verstärkt sich so der Mismatch zwischen geforderter und vorhandener Qualifikation von Arbeitssuchenden?

Wir haben im qualifikatorischen Bereich einen gewissen Mismatch. Wir sehen aber insgesamt, dass der Arbeitsmarkt hier flexibler geworden ist. Heute werden viel häufiger Personen von Unternehmen eingeschult, auch wenn sie dort keine einschlägigen Berufserfahrungen vorweisen können. Aufgrund des hohen Bedarfs an Arbeits- und Fachkräften ist diese Flexibilität gestiegen – das war früher durchaus anders. Da dreht sich der Markt, es ist stärker ein Arbeitnehmermarkt geworden.

Das Saisonnierkontingent im Tourismus ist gerade um weitere 900 Stellen erhöht worden. Wird das in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit wieder zunimmt, schwerer argumentierbar?

In den Tourismushochburgen Österreichs haben wir Vollbeschäftigung. Da gibt es fast keine Arbeitslosen oder Arbeitsuchenden, gerade in diesem Bereich nicht, wo sie gesucht werden. Wir haben natürlich ein gewisses Arbeitskräftepotenzial in Wien, das man theoretisch im Sommer für Saisonjobs im Rest Österreichs heranziehen könnte. Aber ehrlich gesagt, ist das herausfordernd, weil bestehende Regeln und praktische Hürden das erschweren. Zumutbarkeitsbestimmungen schützen da auch richtigerweise Familien und das soziale Leben. Man kann über alles diskutieren, aber das Argument, dass es in Österreich so viele Arbeitssuchende gibt, die man ja dafür einsetzen könnte, ist verkürzt, da unterschätzt man diese regionalen Unterschiede.

Die Rot-Weiß-Rot-Karte wurde aus der Wirtschaft wiederholt als zu bürokratisch kritisiert. Im Herbst wurde sie reformiert. Wie fällt die Zwischenbilanz aus?

Die ersten Zahlen sind vielversprechend, wir haben seit Inkrafttreten der Reform am 1. 10. ein Plus von rund 45 Prozent im Vergleich zum jeweiligen Vorjahresmonat. Wir hatten im Vorjahr rund 6200 Rot-Weiß-Rot-Karten, heuer sollten es knapp 10.000 sein. Das heißt nicht, dass damit alle Probleme beseitigt sind, zeigt aber, dass die Reform grundsätzlich gut funktioniert.