Die Europäische Zentralbank wurde am 1. Juni 1998 gegründet. Sie sollte die Einführung des Euro vorbereiten – die bislang weltweit größte Währungsumstellung. Damals habe ich in einer internationalen Anwaltskanzlei gearbeitet. Ich erinnere mich noch genau, wie wir mit Hochdruck Vertragstexte anpassten, in denen es um Wechselkurse ging, die schon bald der Vergangenheit angehören sollten. Würde diese gemeinsame Währung tatsächlich funktionieren? Heute feiern wir das 25-jährige Bestehen der Europäischen Zentralbank, und wir wissen nun, dass unsere Währungsgemeinschaft funktioniert und der Euro den Zusammenhalt in Europa gestärkt hat.
Die Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union haben uns den Euro anvertraut. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Frankfurt arbeiten gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen der 20 nationalen Zentralbanken des Eurosystems unermüdlich daran, unseren Auftrag zu erfüllen, das heißt, Preisstabilität zu gewährleisten. Diese Arbeit leistet einen wesentlichen Beitrag für den Wohlstand der Menschen in Europa.
In den vergangenen 25 Jahren konnten wir neun neue Länder in die Währungsunion aufnehmen. Die Zahl der Mitgliedsländer hat sich von anfangs elf auf 20 erhöht. Auch unser Aufgabenportfolio ist mit der Zeit größer geworden – nicht zuletzt mit der europäischen Bankenaufsicht. Im internationalen Währungssystem ist der Euro heute die zweitwichtigste Währung nach dem US-Dollar.
Es war nicht immer einfach. Doch in wirtschaftlich guten wie auch schlechten Zeiten, unter der Führung meiner Vorgänger Wim Duisenberg, Jean-Claude Trichet und Mario Draghi, war die Europäische Zentralbank stets darauf bedacht, ihren Auftrag zu erfüllen und so das Fundament für die Zukunft Europas zu stärken.
Die Pandemie und Russlands ungerechtfertigter Krieg gegen die Ukraine haben uns gezeigt, dass Stabilität keine Selbstverständlichkeit ist. Die zunehmenden geopolitischen Rivalitäten könnten dazu führen, dass die Weltwirtschaft künftig immer volatiler wird. In einer von Unsicherheit geprägten Welt hat sich die Europäische Zentralbank bislang als verlässlicher Stabilitätsanker erwiesen und wird dies auch in Zukunft sein.
Wir haben unter Beweis gestellt, dass wir selbst angesichts der größten Herausforderungen rasch handeln und uns anpassen können. Nur wenige Monate nach meinem Amtsantritt als Präsidentin der Europäischen Zentralbank haben wir in kürzester Zeit eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Wirtschaft des Euroraums in der schwierigsten Phase der Pandemie zu unterstützen, und haben so Deflationsrisiken vermieden.
Heute gehen wir im Kampf gegen die Inflation genau so entschlossen vor. Nach Jahren zu niedriger Inflation ist sie nun zu hoch und dürfte zu lange zu hoch bleiben. Das mindert den Wert des Geldes, verringert die Kaufkraft und trifft Menschen und Unternehmen im gesamten Euroraum – ganz besonders die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Aber wir werden die Inflation zu unserem Ziel von mittelfristig zwei Prozent zurückführen. Aus diesem Grund haben wir die Zinssätze in Rekordzeit erhöht, werden sie auf ein ausreichend restriktives Niveau anheben und dort so lange wie notwendig belassen. Nur so können wir die Inflation zeitnah zu unserem Ziel zurückführen.
Die jüngsten Ereignisse im Bankensektor haben es uns vor Augen geführt: Die Geldpolitik profitiert von einem robusten Bankensystem. Finanzstabilität ist eine Voraussetzung für Preisstabilität und umgekehrt. Seit wir 2014 die Bankenaufsicht übernommen haben, setzen wir uns dafür ein, dass die Banken im Euroraum solide bleiben. Unter dem Vorsitz von Andrea Enria wird die Bankenaufsicht auch in Zukunft dafür sorgen, dass die Banken über eine gute Kapitalausstattung verfügen und in einem sich wandelnden Umfeld widerstandsfähig bleiben, damit sie weiter Kredite an Unternehmen und private Haushalte vergeben können.
Unsere Währungsunion ist in den letzten 25 Jahren mehrfach auf die Probe gestellt worden. Wir standen vor Krisen, an denen wir hätten zerbrechen können – darunter die große Finanzkrise, die Staatsschuldenkrise und die Pandemie. Aber jedes Mal sind wir gestärkt aus diesen Krisen hervorgegangen. Jetzt gilt es, auf dieser inneren Stärke aufzubauen.
In einer zunehmend unberechenbaren Welt kann Europa seine Widerstandsfähigkeit in zwei Bereichen stärken. Der grüne und der digitale Sektor sind unerlässlich für künftiges Wachstum. Europa kann Investitionen in diese Sektoren besser fördern, indem es die Integration seiner Kapitalmärkte vorantreibt. Und durch die Vollendung der Bankenunion können wir dafür sorgen, dass der Bankensektor bei zukünftigen Krisen die Risiken abfedert, statt sie zu verstärken.
Simone Veil, die ehemalige Präsidentin des Europäischen Parlaments, hat einst gesagt, dass wir "das Europa der Solidarität, das Europa der Unabhängigkeit und das Europa der Zusammenarbeit" brauchen. Dieses Zitat fasst gut zusammen, wofür der Euro steht, denn schlussendlich ist er mehr als nur eine Währung. Er ist europäische Integration par excellence und steht für ein geeintes Europa der Zusammenarbeit – zum Schutz und Wohl all seiner Bürgerinnen und Bürger.
Die Europäische Zentralbank wird sich stets an zentraler Stelle für dieses Vorhaben einsetzen.