Hat die EZB das Tempo bei den Zinsanhebungen zu früh gedrosselt?
EWALD NOWOTNY: Sie hat mit den Zinserhöhungen ja noch nicht aufgehört. Ich gehe davon aus, dass es heuer noch mindestens zwei weitere geben wird. Der Bremsweg ist lange und abrupt, mit einem gewissen Schockeffekt – das zeigt sich im Bankenbereich in Amerika. Wahrscheinlich hat die EZB zu spät begonnen zu bremsen, jetzt ist sie aber auf der richtigen Spur. Ich erwarte einen Zinssatz bis zu 4,5 Prozent im ersten Quartal des nächsten Jahres.

Wird der Leitzins dann auf dem Niveau verharren oder erwarten Sie wieder rasche Senkungen?
Der Zinssatz wird sicher eine gewisse Zeit hoch bleiben. Nur auf die Zinsen zu schauen ist aber zu simpel. Genauso wichtig ist die Frage der Liquiditätszufuhr. Die EZB kaufte in riesigem Ausmaß Anleihen. Dieses Portfolio abzubauen hat mittelfristig die größeren Wirkungen.

Es könnte also wieder zu einer Kreditklemme kommen?
Ja, es kann potenziell dazu kommen. Wir sehen jetzt schon, dass die Banken restriktiver bei der Kreditvergabe werden. Anschlussfinanzierungen können schwierig und damit zur Existenzbedrohung werden. Die Reduzierung der Liquidität ist ein sehr starkes Medikament.

Was könnte auf Österreich zukommen?
Wir sehen keine unmittelbaren Gefahren. Die österreichische Bankenwirtschaft ist sehr viel solider aufgestellt als viele amerikanische Banken. Aber man muss das genau beobachten. Die Aufsicht wird ja oft heftig für die strengeren Vergaberichtlinien für Private kritisiert.

Ist sie zu Recht der Buhmann?
Nein. Denn das ist genau eine der Lehren, die man aus der letzten Finanzkrise gezogen hat. Es ist verantwortungslos, Leuten Kredite zu geben, die sie sich längerfristig nicht leisten können. Ich kann so auch nicht das Wohnungsproblem lösen, dazu brauche ich etwa den sozialen Wohnbau.

Warum ist die Inflation bei uns so viel höher als in der Eurozone?
Der wichtigste Faktor ist der sehr viel größere Dienstleistungsbereich, wo die Inflation wegen der hohen Lohnkosten stärker zuschlägt. Bei den Lebensmitteln sind die Preisunterschiede wegen der geringeren Konkurrenz sogar gewachsen. Die höheren Gewinnaufschläge sind bekämpfbar. Ein dritter Punkt: Wir haben in vielen Bereichen Indexierungen, die automatische Weitergabe der Inflation.

Nirgendwo sonst in EU wurde so wenig in die Märkte und Preise eingegriffen wie in Österreich.
Man hat etwas übersehen: Man hat nur die unmittelbaren Effekte der Inflation betrachtet und versucht, diese zu dämpfen, aber das wirkt in keiner Weise auf die Inflationsdynamik. Nehmen Sie Lohnverhandlungen: Die Beihilfen sind da irrelevant. Dort habe ich die volle Wucht der Inflationssteigerung.

Wie konnte es zu der falschen Einschätzung kommen?
Manche Berater verfolgten einen Markfetischismus. Man soll ja nicht leichtfertig eingreifen, aber in dem konkreten Fall der Mieten war es ein schwerer Fehler, es nicht zu tun. Es braucht jetzt einen Wellenbrecher gegen die Inflation, dafür sollten Indexierungen in weiten Bereichen ausgesetzt werden.

Soll die Inflation bei den nächsten Kollektivvertragsverhandlungen nicht mehr voll abgegolten werden?
Zu Zeiten einer funktionierenden Sozialpartnerschaft verzichteten Arbeitnehmer auf die volle Abgeltung der Inflation, die Unternehmen auf die volle Weitergabe der Preissteigerungen. Wenn die zweite Seite – die Preise – fehlt, wird es für die Gewerkschaften sehr schwierig, eine Vorleistung zu bringen. Noch dazu, wo die Gewinne und Dividenden enorm zugenommen haben.

Wann sehen Sie das Zwei-Prozent-Inflationsziel der EZB frühestens erreicht?
Ich sehe es in absehbarer Zeit nicht. Das Ziel wurde gesetzt, als man einen enormen Preissenkungsdruck durch eine massive Globalisierung hatte – dieser China-Effekt wird aber schwächer. Die Inflation wird langfristig auf zwei bis drei Prozent zurückgehen. Die Notenbanken dürfen da nicht aus übergroßem Ehrgeiz eine massive Wirtschaftskrise auslösen.

Indem sie die Geldpolitik zu sehr ausreizen?
Man muss achtgeben, dass die Medizin in der richtigen Dosierung verabreicht wird.

Ist die Energiekrise vorbei?
In Bezug auf die Energiepreise ist die Energiekrise vorbei, weil die großen Ausschläge vorbei sind. Wir werden aber längerfristig höhere Preise als in der Vergangenheit haben. Auch, weil in der Klimapolitik eine Reihe von Maßnahmen preiserhöhend wirken – etwa CO₂-Steuer und Emissionshandel. Dieser Preishebel hat ökonomische und soziale Nebeneffekte.

Könnte uns eine neue Eurokrise drohen?
Es geht auch hier nicht nur um die Zinsen, sondern um die Liquidität. Manche Staaten haben Kredite mit einer vergleichsweise kurzen Restlaufzeit und müssen Geld aufnehmen. Wenn die Liquidität knapp wird, ist die Frage, ob sie das zu halbwegs vernünftigen Zinsen bekommen. Der Stabilitätspakt in alter Form ist unrealistisch, der ist in vielen Staaten nicht mehr zu schultern.

Könnte es in Zukunft wieder eine Nullzinsphase geben?
Ich glaube, dass das eine Anomalie war. Der Hauptgrund war der enorme Preisdruck durch die Globalisierung. Wir kommen jetzt in eine neue Normalität, ich sehe keine Nullzinsphase mehr. Niedrige Zinsen waren richtig, aber ich war immer sehr skeptisch gegenüber Negativzinsen und bin sehr froh, dass die jetzt weg sind.