Die massive Teuerung erhöht in Österreich das Risiko von Überschuldung und Armut, warnt Clemens Mitterlehner, Geschäftsführer der ASB Schuldnerberatungen. "Die Probleme sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen", sagt er. Immer häufiger seien Menschen betroffen, die nie mit Überschuldung gerechnet hätten. Inzwischen sei jeder Fünfte armutsgefährdet, verweist Mitterlehner auf ASB-Berechnungen. Er fordert, das mit 1030 Euro definierte Existenzminimum an die Armutsgefährdungsschwelle von zuletzt 1371 Euro monatlich anzuheben.
Die Lage sei dramatisch, erklärt Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) in der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ASB, der Dachorganisation der Schuldnerberatungen. Nach offiziellen Zahlen gelten 15 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet. Rauch, einst selbst in der Schuldenberatung tätig, leitet aus den Zahlen eine politische Agenda ab, die in der Koalition mit der ÖVP für weiteren Zündstoff sorgen dürfte: keine Abkehr von der vor einigen Jahren eingeführten dreijährigen Entschuldungsfrist bei Privatkonkursen. Diese Gleichstellung mit Firmenpleiten ist der ÖVP, aber auch Kreditschutzorganisationen ein Dorn im Auge.
Neuer Anlauf zur Arbeitsmarktreform
Weiters will Rauch einen neuen Anlauf in Richtung Arbeitsmarktreform unternehmen. Die Gespräche hatte Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) vor einigen Monaten wegen der großen inhaltlichen Differenzen mit den Grünen abgebrochen. Rauch pocht angesichts der Zahlen und der zu erwartenden Zuspitzung bei den Überschuldungen im heurigen Jahr neuerlich auf eine Erhöhung des Existenzminimums. "Ich bin auch ein Verfechter der Kindergrundsicherung", so Rauch, obwohl sie noch nicht mehrheitsfähig sei. Mitterlehner zufolge sind bereits 350.000 Kinder in Österreich von Armut betroffen, "das sind 16 Prozent aller unter 18-Jährigen".
Zum bevorstehenden Anti-Teuerungs-Gipfel mit Österreichs Lebensmittelketten am 8. Mai will Rauch sich nur wenig in die Karten blicken lassen. So viel gibt er aber preis: "Ein Ziel ist, dass bestimmte Produktgruppen in Österreich nicht zehn bis 15 Prozent teuer sind als in Deutschland."
13,5 Prozent mehr Privatkonkurse
Durch gestiegene Kosten und höhere Kreditzinsen könne es mittlerweile auch für jene eng werden, die sich das Leben bisher gut leisten konnten, so Mitterlehner. Ratsuchende erklärten in den Gesprächen oft, "ich habe keinen Fehler gemacht und trotzdem bin ich in der Schuldenberatung". Eine finanzielle Entschuldung über einen Privatkonkurs haben 2022 genau 8176 Menschen begonnen, 13,5 Prozent mehr als 2021. Im Schnitt liegt die Überschuldung bei 61.430 Euro.
71 Prozent der Privatkonkurse wurden von Schuldnerberatungen unterstützt. Konkrete Hilfe und Begleitung durch die insgesamt neun Beratungsstellen bekamen aber viel mehr Menschen, genau 55.916 Personen. 2019, vor der Pandemie, waren die Zahlen allerdings viel höher, damals wurden 60.469 Personen für die Bewältigung ihrer Schuldenprobleme unterstützt.
Anfragen nehmen weiter zu
Heuer rechnet Mitterlehner mit deutlich höherer Nachfrage. Die Probleme der Haushalte kämen immer zeitverzögert in die Beratungsstellen. Konkrete Zahlen gibt es zwar erst wieder in einigen Monaten, aber die Anfragen würden weiter deutlich zunehmen.
Neben der Anhebung des sogenannten Existenzminimums pocht Mitterlehner darauf, dass bei Arbeitslosigkeit die Nettoersatzrate von 55 auf 70 Prozent angehoben wird. Arbeitslosigkeit sei der häufigste Grund für massive Einkommensverluste. Die Kombination von Schulden und Arbeitslosigkeit bedeutet oft eine Abwärtsspirale: Kommt es zur Lohnpfändung, muss die vom Arbeitgeber abgewickelt werden. "Den Aufwand wollen sich viele Unternehmen, vor allem kleine, nicht antun", so Mitterlehner. "Da besteht Handlungsbedarf, dieses Hindernis sollte beseitigt werden." Er schlägt eine Regelung wie in der Schweiz vor, vor die Pfändung über eine staatliche Stelle läuft.
Mitterlehner verweist auch auf die ABS-Budgetberatungen, mit denen sich jeder auf potenzielle finanzielle Änderungen der Lebensumstände vorbereiten kann. Mit einem Finanzführerschein sollen zudem junge Menschen gewappnet werden, nicht in die typischen Konsum-Schuldenfallen zu tappen. 9000 machten den Schein 2022, seit dem Start bereits 70.000. Vor allem Pflichtschüler sollen erreicht werden, denn Schuldenkarrieren sind oft mit geringen Bildungsgraden verknüpft. Fast die Hälfte, genau 44,5 Prozent der Menschen, die 2022 erstmals die Schuldenberatung aufsuchten, hatten als höchste abgeschlossene Ausbildung den Pflichtschulabschluss.
Claudia Haase