Die Eröffnung der Koralmbahn sei "mit Sicherheit" das "größte sozialökonomische Experiment in Österreich seit der Eröffnung der Bahnstrecke über den Semmering". Und das ist lange her – genau 180 Jahre, wenn zum ersten Mal ein Intercity-Zug mit 250 km/h durch den 33 Kilometer langen Koralmtunnel rauschen wird. Mitte des 19. Jahrhunderts, im Windschatten der Semmeringbahn, schwappte die erste Welle der Industrialisierung in die Mur-Mürz-Furche, die Bahn brachte allen was.

Die Mechanismen, davon ist Eric Kirschner, Autor einer wegweisenden Studie des Joanneum Research zu den Folgewirkungen der Koralmbahn für Südösterreich überzeugt, seien damals wie heute dieselben. Nur, dass es heute nicht Wien, sondern Graz ist, das Entlastung vom steigenden Agglomerationsdruck bedarf. Das Wachstum der steirischen Landeshauptstadt sei getrieben von Forschungseinrichtungen, innovativer und exportorientierter Industrie und weltweit führenden Nischenplayern, heißt es in der Studie weiter – die südosteuropäische Randlage Kärntens und der Steiermark ist demnach längst überwunden.

Sorge Nummer eins im Süden

Aber neue Nöte machen sich breit: Die Sorge Nummer eins im Süden, das Fehlen von Arbeitskräften als Folge des demografischen Wandels, könnte jedoch Zug um Zug entschärft werden. "Es stellt sich die Frage, wie sich das Verhalten der Menschen, Arbeitslosigkeit, Beschäftigung und Bevölkerungsentwicklung verändern werden", sagt Ewald Verhounig vom Institut Wirtschafts- und Standortentwicklung der Wirtschaftskammer Steiermark im Rahmen einer standortübergreifenden Konferenz zu den Chancen für Südösterreich durch die Koralmbahn. Und es sei auch wichtig, was abseits der Achse getan werden kann. "Es müssen unbedingt auch andere Bahnstrecken als Zubringer zur Koralmbahn noch weiter ausgebaut werden", ergänzt Herwig Draxler, Leiter der Wirtschaftspolitik der Wirtschaftskammer Kärnten. Hier hinke man noch hinten nach. Und während viele peripher gelegene Regionen Einwohner verlieren würden – insbesondere Personen im erwerbsfähigen Alter –, würden urbane Kommunen weiter dynamisch wachsen, die Städte vergleichsweise jung bleiben, so Kirschner.

Die Peripherie rückt quasi ins Zentrum

Hier kommt die Koralmbahn ins Spiel. Blicken wir nach vorne: 14. Dezember 2025. Premierenfahrt. Die Südweststeiermark und Unterkärnten liegen direkt an der Verkehrsachse Graz–Klagenfurt, welche die Ostsee mit den süditalienischen Industrieregionen verbindet. Die "erweiterte urbane Agglomeration" Graz–Klagenfurt wird insgesamt rund 1,1 Millionen Einwohner, davon eine halbe Million unselbstständig Beschäftigte, zählen, über 130.000 sind im produzierenden Bereich tätig, rechnet die Studie vor. Zwölf Minuten dauert dann die Fahrt von Deutschlandsberg nach St. Paul, in weniger als 45 Minuten sind Pendler von Klagenfurt in Graz – und vice versa. Exakt jene Zeit, die ein Pendler heute von Wiener Neustadt nach Wien-Karlsplatz braucht. Die positiven Folgewirkungen der Koralmbahn strahlen aber weit über die zwei Ballungszentren hinaus: Neben Graz und Klagenfurt werden Deutschlandsberg und Wolfsberg von signifikant steigenden Pendlerströmen besonders profitieren – die Peripherie rückt quasi ins Zentrum. Schon bisher sind es diese beiden Regionen, die vorbildlich den verbreiteten Tendenzen der Deindustrialisierung entgegenwirken.

Die Wirkung der neuen Bahn lässt sich vermessen: Ein Bahnhof geht mit einem höheren Bevölkerungswachstum von 2,86 Prozent einher, das Angebot an Arbeitsplätzen steigt signifikant, für Beschäftigte steigt der Suchradius. Kern der Analyse von Joanneum Research: "Mit der Koralmbahn wird eine erweiterte österreichische Zentralregion geschaffen." Mit internationaler Sichtbarkeit: "Nur Berlin, Wien, München, Hamburg und Köln" seien im deutschsprachigen Raum größer. Ebenfalls positiv: Der Preisdruck – etwa Miet- und Lebenshaltungshaltungskosten – wird aus den Zentralräumen genommen werden, das demografische Wachstum regional besser verteilt. "Es bietet sich die große Chance, den negativen demografischen Trend in der Region Südösterreich zu brechen." Das erweiterte Einzugsgebiet reicht dann von der südlichen Obersteiermark bis nach Villach.

Es wird auch Verlierer geben

Dass es auch Verlierer geben wird, verhehlen die Studienautoren aber nicht: Industrielle Regionen werden gestärkt hervorgehen, regionale Zentren profitieren überdimensional. Ebenso Tourismusregionen, so Kirschner, die es schaffen werden, kombinierte Angebote für die Gäste zur Verfügung stellen.

Zentrale Handlungsempfehlung – und nach wie vor offener Punkt: Eine Strategie zur gemeinsamen Vermarktung Südösterreichs mit der neuen urbanen Agglomeration im Kerngebiet der Koralmbahn – sie ist Voraussetzung dafür, dass diese auch Strahlkraft entwickelt. Als Lebensstandort könne sich die Region von direkten Konkurrenzregionen wie Stuttgart oder Mailand abgrenzen. Um den noch nie da gewesenen Mangel an Humankapital zu bewältigen, sei Kooperation der "Schlüssel". Unter anderem im Bereich Forschung und Entwicklung in Form bundeslandübergreifender Cluster, oder aber einer gemeinsamen Ausbildungsschiene für Green-Jobs – ein Zukunftsthema für Steiermark und Kärnten. "Es gibt kein Risiko, nur Chancen. Das einzige Risiko ist es, diese Chancen nicht wahrzunehmen", sagt Reinhard Wallner von den ÖBB.

Gegen Widerstände in der Wiener Politik

Die Koralmbahn wird nicht zuletzt eine spürbare Verlagerung des Personenverkehrs von der Straße auf die Schiene bringen, ist Helmut Adelsberger überzeugt – denn erstmals wird die Bahn mit der starken Fahrzeitverkürzung zwischen den Landeshauptstädten konkurrenzfähig. Adelsberger, ein gebürtiger Steirer, ist freier Konsulent, darf sich jedoch in seiner früheren Funktion als Nationaler Experte Österreichs in Brüssel mit Recht als einer der Wegbereiter für die Koralmbahn bezeichnen. "Ich habe Jahrzehnte darum gekämpft", erklärt Adelsberger der Kleinen Zeitung und erinnert sich an viele Widerstände in der (Wiener) Politik in den 1990er-Jahren.

1993 war Adelsberger von der Voestalpine in das Verkehrsministerium gewechselt und verfolgte die Erstellung eines Bundesverkehrswegeplans. Eine Studie bestärkte Adelsberger damals in seiner Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen der Erreichbarkeit und der Wirtschaftskraft einer Region gebe. Die Arbeit half dem Beamten letztlich dabei, dass die Koralmbahn "gegen massiven Widerstand der Kollegenschaft und der ÖBB, die damals nur den Semmering-Tunnel bauen wollten", in den Masterplan Schiene zum Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wurde. 2002 sei der politische Rückenwind aus Kärnten und der Steiermark dann stark genug geworden, um die Koralmbahn in den Generalverkehrsplan einzubringen. "Ich war sozusagen Ghostwriter der Landeshauptleute Klasnic und Haider."

Teil des Baltisch-Adriatischen Korridors

In den Jahren danach lobbyierte Adelsberger als Delegierter Österreichs und ab 2009 als nationaler Experte in Brüssel für die Koralmstrecke. Es ging darum, dass die gesamte Südachse inklusive Semmering als Teil des Baltisch-Adriatischen Korridors in das hochrangige EU-Verkehrsnetz (TEN-T) aufgenommen wird, was ja auch gelungen ist. Projekte des Kernnetzes werden von der EU kofinanziert. Im Frühling 2011 wurde in Deutschlandsberg der Spatenstich für das Hauptbaulos des Koralmtunnels gefeiert.

Zufrieden ist der Bahnexperte mit dem Istzustand dennoch nicht. Vor einem Jahr forderte Adelsberger in einem Interview mit der Kleinen Zeitung, dass die Steiermark und Kärnten mehr Druck machen müssten, damit auch der Abschnitt Graz-Bruck zu einer Hochgeschwindigkeitsstrecke ausgebaut werde. "Da sind 18 Minuten Fahrtzeit statt derzeit 35 drinnen", sagte Adelsberger – und: "Das ist auch für Kärnten wichtig, weil da künftig die Züge nach Wien fahren. Wenn man will, dass das zwischen 2040 und 2050 fertig ist, muss man jetzt zu planen beginnen." Eine aktuelle Anfrage bei den ÖBB macht aber klar: An einem viergleisigen Ausbau wird – zumindest derzeit – nicht gearbeitet.

In weiter Ferne

Ebenfalls noch in weiter Ferne liegt die Realisierung des Westbalkankorridors vom Süden Deutschlands nach Serbien, Bulgarien, Griechenland und Zypern. Auf zwei Strängen wären Kärnten (Tauernbahn) und die Steiermark auf der Pyhrnachse Teil dieser Verbindung. Sie wurde Ende 2021 von der EU-Kommission für die Aufnahme in das erweiterte TEN-T-Netz vorgeschlagen; die Revision der entsprechenden Verordnung steht für heuer an. Sollte der Korridor tatsächlich in das Kernnetz der EU aufgenommen werden, würden sowohl Kärnten und die Steiermark als auch Salzburg und Oberösterreich vom Ausbau der Bahninfrastruktur profitieren.