Die weitverbreitete Erwartung, die Leitzinsen würden bald wieder sinken, nur weil die Inflation ihren Gipfel überschritten habe, sei blauäugig, sagt Finanzmarktexperte Peter Brezinschek, früherer Chefanalyst von Raiffeisen International. „Wer das glaubt, ignoriert, dass die Kerninflation (Teuerungsrate ohne Energie und Nahrungsmittel, Anm.) hoch bleibt“ und „im kommenden Jahr im Euroraum zumindest eine Vier vor dem Komma stehen wird.“ Es sei möglich, dass die Kerninflation aufgrund stark sinkender Energiepreise (Gas, Strom, Öl) sogar höher ausfällt als die „normale“ Inflationsrate, der Verbraucherpreisindex. Brezinschek: „Die Gesamtinflation könnte 2024 nur mehr 2,x Prozent betragen.“
Der Finanzmarktexperte rechnet folglich nicht damit, dass die US-Notenbank Fed bzw. auch die Europäische Zentralbank bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 beginnen, die Zinsschraube zurückzudrehen. „Die höheren Zinssätze werden für eine längere Periode gelten.“ Brezinschek erwartet, dass die Leitzinsen in den USA noch auf über fünf Prozent steigen werden, in der Eurozone auf „vier Prozent plus“. Derzeit sind es 3,0 Prozent. Der Einlagenzinssatz wird weiterhin 0,5 Prozent darunter liegen.
„Demografie lässt Kosten steigen“
Ein Grund für die weiter hohe Kerninflation sei der „leer gefegte und ausgetrocknete Arbeitsmarkt.“ Denn die demografische Entwicklung lasse die Löhne kräftig steigen. Brezinschek erwartet, dass sich die nächste – für andere KV-Verhandlungen maßgebliche – Metallerlohnrunde im Herbst nicht wie in diesem Jahr an einer rollierenden Teuerung von 6,3 Prozent orientieren wird, sondern an einer „Richtschnur von acht Prozent“, da man traditionell die Inflation der zwölf Monate zuvor als Basis nimmt. Ein Abschluss könnte dann über dem hohen Wert 2022 liegen.
Und das, obwohl die Inflationsrate im Herbst vielleicht nur mehr rund vier Prozent betragen werde. „Die Unternehmen werden die höheren Löhne bezahlen, weil sie diese Kosten auch weitergeben können.“ Und weil sich die Kostenentwicklung bei Energie und Rohstoffen entlastend auswirken wird.
Der Rückgang der arbeitsfähigen Bevölkerung ist kein österreichisches Phänomen. Bereits jetzt sei die reale Stellenandrangsziffer – sie gibt an, wie viele Arbeitssuchende auf eine offene Stelle kommen – unter Einbeziehung privater Suchangebote laut Brezinschek bereits unter als eins, seien also mehr Jobs verfügbar als Menschen arbeitslos gemeldet, meint Brezinschek. „Wir müssen nun die Schleusen öffnen für qualifizierte Zuwanderung. Derzeit haben wir die falsche Zuwanderung schlecht ausgebildeter Personen, teilweise von Analphabeten.“
„Österreich nicht attraktiv genug“
Viele Staaten ritterten um dieselben Leute, „die ganzen etablierten Volkswirtschaften sind gierig nach solchen Arbeitskräften.“ Doch Österreich sei oft nicht attraktiv genug für gut ausgebildete Ausländer. „Wenn jemand den Brutto-Nettorechner bedient, hilft das gute Sozialsystem nichts.“ Um den Ersatz von einfachen bzw. Hilfstätigkeiten durch Automatisierung und Digitalisierung werde man nicht umhinkommen. Brezinschek kann etwa nicht nachvollziehen, warum die ÖBB offensiv Lokführer suche, für eine Tätigkeit, „die in spätestens zehn Jahren keine Zukunft mehr hat.“
Der Ökonom macht auf ein Paradoxon aufmerksam: Die hohen Hilfs- und Subventionszahlungen aus dem Budget während Corona- und Energiekrise würden den Preiserhöhungsprozess sogar noch verlängern.
„Die Nachfrage wird durch Transfers und Subventionen aufrechterhalten.“ Der Staat befeuere also mit Zahlungen an Unternehmen und Haushalten die Inflation zusätzlich: „Wenn sich die Menschen gewisse Dinge nicht mehr leisten können, würden auch deren Preise sinken.“ In den untersten Einkommensschichten, wo die Betroffenheit hoch sei, würden die Förderungen sogar über den Belastungen durch die Inflation liegen. „Wenn von mehr Menschen in der Armutsfalle die Rede ist, wird dies ohne Sozial- und Hilfszahlungen gerechnet.“
„Von Hilfszahlungen lösen“
Der Bund, aber auch Bundesländer wie Kärnten, die „auf die Tube drücken“, müssten sich von den Transfer- und Subventionszahlungen lösen, fordert Brezinschek. „Wir sehen 2023 Reallohnsteigerungen, die kalte Progression wurde zum Teil gestrichen.“ Jetzt müsse wieder auf die Staatsfinanzen geschaut werden, auch weil der Zinsdienst teurer wird. „Wenngleich wir weit weg von irgendeiner Gefahr sind. Die Zinsbelastung ist weiter historisch niedrig.“
Börsenstimmung hellt sich auf
Den Börsenausblick sieht der Finanzmarktexperte durchaus positiv: Nicht nur, weil der starke Jahresauftakt im Jänner ein gutes Indiz für die weitere Entwicklung sei, sondern auch, weil „die Rezession abgesagt wurde“. Die Stimmung helle sich auf, obwohl das erste Quartal kein Wachstum bringen werde. „Ab dem Frühsommer läuft die Wirtschaft wieder besser. Im Jahr 2023 wird beim Wachstum eine Null vor dem Komma stehen.“
An den Börsen drehen sich aber die Favoriten der Investoren. Anders als 2022, als Energie-, Pharma- und Versorger bestens verdienten und gegen den Trend steigende Kurse verzeichneten, dreht sich das Klima: "Heuer werden IT- und Technologiewerte wieder stark da sein." Selbst die geschmähten Tech-Giganten könnten wieder Boden gewinnen, die Maßnahmen, um Kosten einzusparen, waren "gigantisch". Gemeinsam mit der Industrie werden diese die defensiven Werte in den Schatten stellen, meint Brezinschek, der dem ATX, der 2022 19 Prozent verlor, für 2023 ein zweistelliges Aufholpotenzial attestiert.
Ein großer Unsicherheitsfaktor
Überraschend positive Ausblicke, die ein großer Unsicherheitsfaktor trüben könnte: „Die Geopolitik.“ Das Dreieck China-Taiwan-USA berge laut Brezinschek das größte Bedrohungspotenzial. Aber auch die Dauer Ukrainekriegs wirke sich auf die wirtschaftliche Erholung aus. Kritisch sieht er neue Rahmenbedingungen in der EU wie das deutsche Lieferkettengesetz, mit dem der Verlust von Wertschöpfungsketten drohe: „Die EU braucht globale Lösungen und darf sich nicht abkoppeln von internationalen Handelsverflechtungen“, warnt er.