Russland plant nach Recherchen des NDR die Ausfuhr von insgesamt 1,8 Millionen Tonnen Getreide aus den besetzten Gebieten der Ukraine. Wie aus der Auswertung von Schiffsdaten, Satellitenbildern sowie aus russischen Dokumenten hervorgehe, wurden offenbar schon eine Million Tonnen über Seehäfen der annektierten Krim-Halbinsel verschifft, heißt es in dem Bericht. Von den Journalisten befragte Experten schätzten die Enteignung der Ernte als womöglichen Bruch von Völkerrecht ein.
Syrien, Russland und Türkei
Den NDR-Recherchen zufolge haben rund 20 Schiffe seit Kriegsbeginn im Februar dieses Jahres den Krim-Hafen Sewastopol mit Weizen und anderem Getreide beladen verlassen. Meist gehen die Transporte demnach nach Syrien, Russland oder in die Türkei. Die russischen Frachter würden ihre Ortungsgeräte abschalten, bevor sie die Krimhafen anliefen - doch mit Satellitenbildern, den Bildern von Schiffsbeobachtern und fragmentarischen Transponderdaten lasse sich der Weg der Transportschiffe nachzeichnen.
Ukrainische Agrar-Unternehmer erklärten dem NDR zufolge, dass Russland das Getreide beschlagnahme, das Bauern auf der Flucht aus den besetzten Gebieten zurücklassen. Andere Landwirte würden enteignet oder müssten ihr Getreide zu Dumping-Preisen verkaufen, hieß es.
Von den Journalisten eingesehene Frachtlisten über Beladedaten und -mengen auch für zukünftige Fahrten legten nahe, dass "die russischen Besatzer offenbar bereits jetzt die Logistik für den zukünftigen Diebstahl von Getreide organisiert haben", berichtet der NDR. Russland könne mit den illegalen Ausfuhren bei den diesjährigen Weltmarktpreisen rund 600 Millionen US-Dollar erwirtschaften.
Der NDR zitiert die Völkerrechtlerin Paulina Starski von der Universität Freiburg: Ihr zufolge könnte die rechtswidrige Aneignung von Getreide in großem Ausmaß, die willkürlich erfolgt und nicht durch militärische Notwendigkeit gedeckt ist, ein Kriegsverbrechen sein.
Die russische Botschaft teilte laut Bericht auf NDR-Anfrage mit, es sei "unstrittig, dass die Russische Föderation nicht nur den Eigenbedarf an Getreide deckt, sondern auch Exportanfragen aus allen Teilen der Welt entspricht". Russland habe aber keinen Bedarf an ukrainischem Weizen, zumal dieser "dem russischen Produkt in Qualität nachsteht". Die Botschaften Syriens und der Türkei antworteten dem NDR nach nicht auf dessen Anfragen.
Erdogan sieht "kein Hindernis"
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht indes kein Hindernis für eine Verlängerung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine. Damit zitiert NTV Erdogan nach dessen Gesprächen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er habe am Donnerstagabend mit beiden gesprochen, sagt Erdogan dem Sender zufolge auf dem Rückflug aus Aserbaidschan. "Es gibt kein Hindernis für die Verlängerung des Exportabkommens."
Im Rahmen des von der Türkei und den UNO vermittelten und im Juli unterzeichneten Abkommens seien Erdogan zufolge mehr als acht Millionen Tonnen Getreide und andere Lebensmittel über das Schwarze Meer aus der Ukraine ausgeführt worden, heißt es in dem Bericht.