Hebt Europas Zentralbank den Leitzins heute, Donnerstag, wirklich um 0,75 Prozentpunkte an, wäre es die stärkste Leitzinsanhebung seit der Einführung des Euro als Buchgeld im Jahr 1999. Experten verweisen auf die extrem hohe Inflation.
Das Bild bei den Ökonomen ist aber nicht einhellig. Einige Experten rechnen nur mit einer Erhöhung um 0,50 Prozentpunkte. Nach langem Zögern hatten die Euro-Währungshüter im Juli erstmals seit elf Jahren die Zinsen im Euroraum wieder angehoben. Den Leitzins, zu dem sich Kreditinstitute bei der EZB Geld leihen können, hatte die Notenbank von 0 auf 0,50 Prozent erhöht. Sollte die EZB tatsächlich einen noch größeren Zinsschritt vollziehen, dann würde dieser sogenannte Hauptrefinanzierungssatz bei 1,25 Prozent liegen. Der derzeit wichtigere Einlagensatz würde auf 0,75 Prozent steigen. Zum Einlagensatz können Banken überschüssige Liquidität bei der EZB parken.
Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater geht von einer Anhebung um 0,75 Prozentpunkte aus: "Angesichts des enormen öffentlichen Drucks, der mittlerweile von der ausufernden Teuerung ausgeht, gehen den Tauben im Zentralbankrat, also den Mitgliedern, die traditionell eher für eine laxere Geldpolitik plädieren, die Argumente aus."
Aus dem EZB-Direktorium forderte unlängst Isabel Schnabel ihre Notenbank-Kollegen auf, die Inflation entschlossen und rasch wieder auf den Zielwert von zwei Prozent zu bringen. Im August war die Jahresinflationsrate auf 9,1 Prozent geklettert und damit so hoch wie noch nie seit Einführung des Euro. Daher bleibe der Notenbank im Grunde nicht viel übrig, als die Geldpolitik weiter zu normalisieren, erklärte Schnabel.
Chefvolkswirt für kleinere Schritte
"Es besteht das Risiko, dass die Phase hoher Inflation noch länger anhält und die aktuelle Teuerungswelle nur langsam abebbt", warnte zuletzt Bundesbank-Präsident Joachim Nagel. Er forderte daher eine "kräftige" Zinsanhebung auf der kommenden Sitzung. Eine Reihe von Mitgliedern sprach sich in den vergangenen Tagen konkret für eine Zinserhöhung um 0,75 Punkte aus. Zurückhaltender äußerte sich Chefvolkswirt Lane, der kleinere Zinsschritte bevorzugt.
Nach Einschätzung von Gilles Moec, Chefvolkswirt von AXA Investment, steht Lane aber ziemlich alleine da. Die EZB dürfte daher dem Vorbild der US-Notenbank Fed folgen, die den Leitzins zuletzt erneut um 0,75 Punkte angehoben hatte. Die EZB könnte aber womöglich auch eine Anhebung vornehmen, die stärker ausfallen könnte als die der Fed, schreibt Moec. Dafür führt er die anhaltende Schwäche des Euro-Wechselkurses an. Diese sorge für eine höhere Inflation durch importierte Güter.
Euro fiel auf niedrigsten Kurs seit 20 Jahren
Tatsächlich erschwert der schwache Euro die Inflationsbekämpfung. So fiel der Euro zuletzt unter die Parität zum US-Dollar und wurde zum niedrigsten Kurs seit knapp 20 Jahren gehandelt. Rohöl und viele Rohstoffe müssen in Dollar bezahlt werden. Ein stärkerer Dollar macht die Importe teurer und treibt die Inflation im Euroraum an. Steigende EZB-Leitzinsen könnten den Eurokurs jedoch stützen.
Erschwert wird die Geldpolitik durch die schwächelnde Wirtschaft. Insbesondere die stark gestiegenen Erdgaspreise, aber auch weiterhin bestehende Störungen der Lieferketten belasten die wirtschaftliche Entwicklung. Steigende Leitzinsen könnten die Konjunkturentwicklung zusätzlich dämpfen. Allerdings ist die EZB laut ihrem Mandat der Inflationsbekämpfung verpflichtet.
Die Commerzbank erwartet jedoch, dass die EZB ihren Zinsanhebungsprozess schon im Frühjahr 2023 unterbrechen wird. "Der Lackmustest für die Entschlossenheit der EZB, die Inflation zu senken, steht erst nach dem Jahresbeginn 2023 an", schreibt Chefvolkswirt Jörg Krämer in einem Ausblick. "Denn dann dürfte in den harten Daten sichtbar werden, dass der Euroraum wegen der massiv gestiegenen Energiepreise und der Unsicherheit über die Gasversorgung in die Rezession gerutscht ist." Dann müsse die EZB ihre Prognosen nach unten revidieren und die Gegner von Zinserhöhung würden Aufwind erhalten.