Auch nach Österreich ist am Donnerstag um ein Drittel weniger russisches Gas geflossen. Bereiten Ihnen diese Entwicklungen Sorgen? Ist das eine Politik der gezielten Nadelstiche? Oder wie real schätzen Sie die Gefahr ein, dass Putin das Gas komplett abdreht?
KARL ROSE: Im Augenblick nicht sehr hoch für einen Totalstopp, solange er den Krieg nicht verliert. Allerdings wird er versuchen, durch Drosselungen stufenweise den Druck zu erhöhen. Und er hat ein großes Instrumentarium zur Verfügung.

Welches?
Eine Minderung des Exports von Heizöl nach Europa im Herbst, zum Beispiel. Wir importieren ja nicht nur Öl und Gas, sondern auch Produkte aus Russland. Bei Diesel und Heizöl sind wir auch sehr von Russland abhängig, und da meine ich die gesamte EU und nicht Österreich. Zurzeit liefert Russland noch jeden Tag eine Million Barrel Diesel nach Europa, auch nach den Sanktionen. Und diese Menge ist global kaum zu ersetzen, da die Raffineriekapazitäten fehlen. Der nächstgrößte Lieferant ist Saudi-Arabien, mit nur 0,2 Millionen Barrel pro Tag in die EU. Schwierig, nicht unmöglich, aber sicher teurer.

Sie haben jüngst bei einem Vortrag prognostiziert, dass die Zeiten von günstigem Strom und Gas in Europa für lange Zeit vorbei sind. Ist das Ihrer Wahrnehmung nach auch der Politik bewusst?
Das ist mir unbekannt. Allerdings widerspricht meine Einschätzung der gängigen Erwartung, dass sich Preise nach Krisen wieder relativ schnell an vorherige Niveaus angleichen. Dies wird diesmal nicht der Fall sein, und dafür muss man schon vom Fach sein, um das im Detail zu sehen.

Welche Folgen hat das für die Wettbewerbsfähigkeit der EU?
Ohne globale Kooperation wird Europa an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Der Anteil der Energiekosten am BIP ist in Europa auch ohne CO₂-Preise bereits deutlich höher als in den USA oder China, fünf Prozent verglichen mit drei Prozent und zwei Prozent. Nachdem die neu zu bauende Infrastruktur in der EU abgeschrieben ist, wird Energie auch hier wieder billig werden, da zu 100 Prozent erneuerbar. Aber es wird dauern.

Was bedeutet das für österreichische Haushalte? Sind Preiserhöhungen wie die zuletzt angekündigten plus 92 Prozent für Fernwärme bei der Wien Energie nur eine Ouvertüre? Was kommt da noch auf uns zu?
Für Gas ist diese Steigerung sicherlich konform mit Marktentwicklungen. Ich halte eine Verdoppelung kurzfristig leider für realistisch.

Sie sind aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrungen mit den komplexen globalen Energiemärkten als Berater der Regierung im Gespräch. Werden Sie so eine Rolle übernehmen?
Das möchte ich in den Medien nicht kommentieren.

In einem Medienbericht wurde zuletzt eine etwaige Unvereinbarkeit mit Ihrer Position als OMV-Aufsichtsrat geortet. Zu Recht?
Ich gehe davon aus, dass sowohl die Bundesregierung als auch ich uns der Regeln besser bewusst sind, als ein Medienbericht, der darauf abzielt, eine Schlagzeile zu produzieren. Aber in Österreich wundern mich solche Berichte inzwischen wenig.

Der deutsche Tankrabatt scheint krachend gescheitert zu sein. War das absehbar? Heißt das für Österreich, Hände weg von einer solchen Maßnahme?
Das war vorhersehbar. Die Preise steigen aufgrund von exponentiell steigenden sogenannten "crack spreads", also der Differenz zwischen dem Preis von Rohöl und den daraus raffinierten Produkten wie Benzin, Diesel oder Kerosin. Ausgelöst wird dieser Anstieg durch drei Faktoren: Unsicherheit und verstärkte Einkäufe von Produkten durch den Krieg in der Ukraine, eine gleichzeitige sehr starke Reduzierung der Exporte dieser Produkte aus China, zufällig oder nicht, sowie Schließungen von Produktionsanlagen in der südlichen Hemisphäre. Der Rabatt wurde sofort durch diese Steigerungen kompensiert.

Lassen sich diese Preisentwicklungen auf Dauer für die Bevölkerung überhaupt ausgleichen?
Nein, im Prinzip nur für die Schwächsten. Und man sollte sie auch nicht für alle ausgleichen. Um die Energiewende zu erreichen, brauchen wir höhere Preise, die auch zu Änderungen im Konsumverhalten führen.

Von Leserseite wird immer wieder der Vorwurf laut, dass Mineralölkonzerne, aber auch Stromerzeuger, auch massiv von diesen Preiskapriolen profitieren. Ist das so?
Natürlich, aber das gilt vor allem für die Unternehmen, die hauptsächlich in der Erzeugung ihre Gewinne erzielen. Sobald man aber auch massiv im Kundengeschäft ist, erleidet man in der Regel Verluste, weil man Produkte teuer zukaufen muss. Ein interner Transfer zwischen Erzeugung und Verkauf ist nach EU-Regeln übrigens verboten. Ich darf die Gewinne in der Erzeugung nicht dazu benutzen, um meine Preise im Verkauf zu senken. Das sollte man auch einmal kommunizieren. Man muss hier wirklich differenzieren und nicht über einen Kamm scheren.

Ist russisches Gas, wie es die EU plant, in fünf Jahren tatsächlich zu ersetzen?
Sehr schwer, aber wenn man wirklich will, könnte es gehen. Aber es werden vielleicht nicht alle 27 Länder mit so großem Einsatz mitgehen, also wird es wahrscheinlich länger dauern.

Welche alternativen Bezugsquellen sind für Österreich aus Ihrer Sicht realistisch?
Wenn ich es zeitlich gliedere, dann sind Effizienz- und Einsparungsmaßnahmen, um den Verbrauch zu drosseln, am realistischsten. Hier müssen wir uns etwas zutrauen. Danach Leasing oder Ausbau von Pipelinekapazitäten, um an Terminals angeschlossen zu werden und von Übersee importieren zu können. Wir sollten auch das Bohren im eigenen Land nicht vergessen. Wir haben noch ungenutzte Reserven in Österreich und können diese auch erschließen, wenn wir das wollen. Längerfristig ist die Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien wichtig.

Sie haben für Europa zuletzt aber auch mehr "Alles-ist-möglich-Mentalität" hinsichtlich der Energiewende eingefordert. Wie haben Sie das gemeint?
Eine größere Innovationsinitiative für revolutionäre Projekte im Bereich Energiesparen, Energieeffizienz und Sektorkopplungen.

War Österreich in den vergangenen Jahren hinsichtlich der Diversifizierung seiner Gasimporte tatsächlich zu fahrlässig, wie nun immer wieder kritisiert wird?
Ex post kann ich immer alles schlecht reden. Man hätte vielleicht schon vorher ein Gasbevorratungsgesetz verabschieden oder auf zwischenstaatlicher Ebene für Krisenfälle Kooperationen in der Pipelinenutzung andenken können. Außerdem die europäischen Reserven, wenn schon nicht zu produzieren, zumindest so zu erkunden, dass sie im Krisenfall stufenweise erschlossen und hochgefahren werden können. Für Unternehmen, die privatwirtschaftlich geführt werden, und das sind in Österreich alle Energieversorger, ist eine Diversifizierung nur dann wirklich möglich, wenn wirtschaftlich vergleichbare Optionen am Tisch liegen. Wenn alle Alternativen viel teurer sind, hört sich der Spaß auf. Welcher Kunde hätte denn ohne Not hohe Energiepreise bezahlt? Dieses Instrumentarium muss von Staaten bespielt werden, nicht von Unternehmen.

Verstehen Sie den Unmut der Industrie, die sich für den Fall eines Gasstopps nicht gut informiert fühlt, welche Sektoren in einem Energielenkunfall nicht mehr produzieren können?
Ja, allerdings ist Kommunikation immer eine beidseitige Angelegenheit. Es ist mir unbekannt, was eigentlich bereits kommuniziert wurde. Vonseiten der Industrie hat es aber anscheinend auch keine große Initiative gegeben. Man hätte ja auch in Eigenregie Stufenkataloge entwickeln können, die darstellen, welche Folgen ein Gasstopp in 20-Prozent-Schritten für das jeweilige Unternehmen hat. Um das mit Notfallplänen zu begleiten, auch wenn die da lauten, wir sperren am Tag 1 zu. Dann habe ich zumindest eine Abschätzung des wirtschaftlichen Schadens und der Anzahl der Arbeitslosen etc.