Sie warnen vor einem "Tsunami" bei den Energiepreisen, die hohen Preise im Großhandel seien noch gar nicht angekommen. Was rollt da auf uns zu?
CHRISTIAN KERN: Ich gehe davon aus, dass wir vor dem Sommer bei Preiserhöhungen eine zweite heftige Runde sehen werden. Diese wird Energiearmut verschärfen. Das wird jeden zehnten, wenn nicht gar jeden achten Haushalt treffen, der das Leben wird einschränken müssen. Damit kann man einen riesigen Frust in der Bevölkerung auslösen, der zu politischen Gegenreaktionen führen kann.
Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ist durch explodierende Energiepreise in Gefahr.
Gravierend. Man kann sich noch gar nicht vorstellen, was das in einem globalen Wirtschaftskrieg bedeutet. Wenn wir jetzt Pipelinegas wirklich durch Flüssiggas ersetzen, treten wir in den globalen Wettbewerb mit Ländern wie China, Korea und Japan. Wenn wir uns von russischem Gas unabhängig machen, kaufen wir drei bis vier Mal so teuer ein. Wir betreiben eine Glasfabrik in Brandenburg – während wir in Europa mit 200 Euro Energiekosten pro Megawattstunde kalkulieren müssen, wären es bei einem amerikanischen Standort 35 Euro. Dort gibt es ausreichend Angebot an Gas und Strom. Auch die asiatischen Wettbewerber finden wesentlich günstigere Bedingungen vor. Wir sehen eine Entwicklung, die unseren Wohlstand infrage stellt.
Dieser Wohlstand baut also auf billigem Gas aus Russland auf?
Das war mit Sicherheit so. Es war aber nicht die Politik, die sagte, kauft das Gas in Russland ein, es war für die Unternehmen schlicht das günstigste.
Warum sorgten wir nicht rechtzeitig für Alternativen?
Weil der Markt liberalisiert ist und Verbund oder OMV einkaufen, wo es am günstigsten ist. Es war eine bewusste politische Entscheidung in den Neunzigerjahren, Energie wie jede andere Ware zu behandeln.
Sie waren Verbund-Vorstand – was kann getan werden, um die Strompreise zu senken?
Ich würde den Strom- vom Gaspreis entkoppeln, weil immer das teuerste Kraftwerk den Preis für alle anderen bildet. Das ist derzeit ein Gaskraftwerk. So wird Strom unleistbar. Dass ein Energieversorger für eine Megawattstunde Strom aus Wasserkraft 200 Euro pro Stunde kassiert, ist nicht einzusehen. Vor einem Jahr verdiente Österreichs größter Stromkonzern 55 Euro pro Megawattstunde, jetzt um 145 Euro mehr. Die produzieren 30 Terawattstunden und haben dadurch einen Extraprofit von 4,2 Milliarden. Riesengewinne auf dem Rücken von Leuten zu machen, die Angst haben, ihr Leben nicht mehr finanzieren zu können, muss man durchbrechen. Den Extraprofit muss der Staat abschöpfen, in dem das öffentliche Gut Wasser einen Preis bekommt. Die Regierung muss die Komfortzone verlassen. Tut sie es nicht bald, wird sie dazu gezwungen werden.
Wie können wir verhindern, in die Armutsfalle zu laufen?
Wir werden um massive Rettungsprogramme für Wirtschaft und Haushalte nicht umhinkommen. Wir benötigen kurzfristig zwar enorm viel Geld zur Stützung von Haushalten und Unternehmen, brauchen aber eine Strategie für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Wir haben die Klimakrise, die Pandemiekrise und jetzt noch die Russlandkrise und waren nicht in der Lage, eine einzige nachhaltig zu lösen. Es geht nicht mehr nur um die Verteilung von Wohlstand, sondern darum, wo er herkommt. Mir fehlt hier jede Form der Strategie. Das ist eine Kritik an der gesamten politischen Szene, da nehme ich keine Partei aus.
Haben wir überhaupt noch das Geld, um die Wirtschaft zu stützen und zugleich umzubauen?
Es ist ein Kampf gegen die Uhr. Jedes Dach, jeden Quadratmeter, den wir vorfinden, müssen wir für Photovoltaik und Windkraft nutzen. Wir müssen kurzfristig auch dreckige Optionen nutzen und Kohle- und Kernkraftwerke vorübergehend länger laufen lassen, um den Gasverbrauch und damit die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren.
Wir sind sehr spät dran, geredet wurde ja schon sehr lange.
Es hat schon immer eine große Allianz der Verhinderung gegeben. In Deutschland gibt es drei Förderungen für Elektroautos, in Österreich 43. Es wird doch keiner glauben, dass wir die behäbigen Institutionen, die wir aufgebaut haben, weiter alimentieren können. Um effizienter zu werden, müssen wir über die Lobbys drüber.
Es liegt an den Ländern, die Energiewende zu ermöglichen?
Die ganze Raumordnungsfrage ist ein riesiges Problem. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder zu solidem, langweiligem Regieren mit Problemlösen und Weiterdenken kommen. Wir bewegen uns zu sehr auf der Ebene von Überschriften.
Wie soll so die Energiewende machbar sein, etwa die angestrebte Stromautarkie bis 2030?
Wir brauchen einen neuen Rechtsrahmen, die Instanzen müssen gestrafft werden. Verwaltung und Regierung müssen umdenken, etwa indem sie eine Superbehörde schaffen, die in ganz Österreich für diese Genehmigungen zuständig ist – von der Raumordnung bis zur Betriebsgenehmigung. Wir brauchen die Konzentration auf eine oder zwei Instanzen und eine Aufstockung der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Was droht, kriegen wir Energieprobleme nicht in den Griff?
Menschen sind besonders verführbar, wenn sie Ängste haben. In regulären Arbeitsverhältnissen werden wir Lohnabschlüsse haben, die das abfedern. Aber wir haben Hunderttausende Haushalte mit selbstständigen, teils prekären Beschäftigungsverhältnissen. Ich orte, dass in unserer Gesellschaft der Angstpegel steigt – Angst ist ein verheerender Humus, aus dem antidemokratische Tendenzen wachsen.
Die Teile für PV und Windkraft kommen meist aus China: Begeben wir uns nicht von einer Abhängigkeit in die nächste?
Die PV-Zellen kommen zu 100 Prozent aus Asien, unsere Abhängigkeit ist restlos. Wir werden zum Spielball nichteuropäischer Interessen. Vor einem Jahr vergrößerten die Chinesen die Zellgrößen um 50 Prozent, diese waren in Europa nicht mehr verarbeitbar, die Europäer mussten nachziehen und massiv investieren, um überhaupt produzieren zu können. Normen sind Teil des globalen Wirtschaftskriegs.
Stimmen Sie dem deutschen Vizekanzler Habeck zu, der meinte, dass wir alle ärmer werden?
Kurzfristig werden wir Wohlstandsverzicht erleben. Aber wir haben die Chance, uns aus den strukturellen Problemen zu befreien.
Ist es hinzunehmen, dass wir 700 Millionen Euro pro Tag für russisches Gas überweisen?
Vor dem Liveexperiment eines Gasembargos würde ich zurückschrecken.