Nicht viele Menschen in Österreich können wie auf ein so ungewöhnliches unternehmerisches Lebenswerk zurückblicken wie Sie. Mit welchen Gefühlen gehen Sie jetzt durch die Werkshallen in Andritz?
WOLFGANG LEITNER: Ich bin kein großer Grübler. Wenn ich durch die Werkshallen in Andritz gehe, dann sind meine Gedanken nicht nur hier in Andritz, sondern bei allen unseren Beschäftigten weltweit. Von unseren 27.000 Mitarbeitern sind 1100 bis 1200 hier im Stadtteil Andritz, 280 noch in Raaba, das ist also nicht repräsentativ.
Kein Gedanke an die Anfänge? Ihr Vater war hier einst Schlosser.
Ich fahre im übertragenen Sinn relativ ohne Rückspiegel und bin sehr zukunftsorientiert. Natürlich ist mir bewusst, dass ich jetzt aus dem Vorstand ausscheide, ich sehe das grundsätzlich positiv. Wenn ich gewisse Altersgrenzen überschreite, werde ich mich möglicherweise mehr mit der Vergangenheit beschäftigen, aber derzeit ist es noch nicht so weit. Es gibt genügend spannende Dinge, womit man sich beschäftigt, etwas entscheiden muss, etwas hofft und erreichen will. Ich wüsste auch nicht, in welchem Jahr genau wir die großen Akquisitionen wie den Hydroteil der VA Tech, Schuler oder Xerium gemacht haben. Meistens sage ich einfach, vor cirka zehn Jahren.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie Wert auf Ihre "lupenreine proletarische Vergangenheit" legen. Ist das noch so?
Man weiß ja nicht, wie sich die politischen Verhältnisse verändern, da ist es gut, vorzubauen auf beiden Seiten. Aber im Ernst: Wir können auf die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft stolz sein. Ich bin ja nicht der Einzige, der das erreicht hat, dafür gibt es x Beispiele. Meine Eltern haben auf Vieles verzichtet, um mir und meinem Bruder die Ausbildung zu ermöglichen. Es war natürlich auch meine Mutter, die gefragt hat, warum ich nur einen Zweier und keinen Einser bekommen habe.
Deshalb liefert Andritz immer noch bessere Ergebnisse und höhere Dividenden.
Die Krankheit der Journalisten: alles vereinfachen.
Jammern wir in Österreich zu viel über das Bildungssystem?
Wir verfolgen seit mindestens 20 Jahren die Testergebnisse bei Lehrlingen, die Ergebnisse sind kontinuierlich gefallen. Die Anforderungen an das Bildungssystem sind gewachsen, weil der Anteil der Schüler ohne deutsche Muttersprache überall hoch ist, aber ich glaube, dass es trotzdem funktioniert. Man darf sich nicht nur auf die eine Seite konzentrieren, sich am Mindestmaß orientieren, sondern muss sich auch zu Spitzenleistungen bekennen. Eine "gleiche" Gesellschaft gilt deshalb als sehr ungerecht, weil sie das sehr begrenzen würde. Eine Gesellschaft, die gleiche Chancen bietet, ist sicher ein wichtiges Element davon.
Sind Sie trotz oder wegen Ihrer Erfolge relativ medienscheu geblieben?
Medienscheu bin ich nicht, ich lege keinen besonderen Wert darauf, mich als Person in der Zeitung zu sehen. Mit Andritz sind wir ausreichend in den Medien vertreten.
Wie werden Sie es in Zukunft handhaben? Es gibt Protagonisten der heimischen Wirtschaft, die sich nach ihrer operativen Karriere etwas mehr zu Wort melden, andere, die sich zurückziehen. Lässt sich das schon abschätzen?
Pressekonferenzen gebe ich wohl keine mehr. Es ist gut, wenn sich glaubwürdige, vernünftige Menschen öffentlich einbringen. Ich habe mich aber anders entschieden und werde voraussichtlich auch dabei bleiben.
Dass der Erfolg von Andritz untrennbar mit Ihnen verbunden ist, darf man aber sagen?
Man muss das nicht überinterpretieren. Ich bin das Aushängeschild. Andritz wird zwar nach außen durch mich repräsentiert, aber alle müssen dazu beitragen, etwas zu erreichen. Es zählt die Kraft der Argumente. Ich glaube nicht an die Hierarchie. Ich bin jemand, der erst zum Schluss seine Meinung sagt, denn das Problem ist nicht, dass ich nicht gehört werde, sondern dass ich eher zu stark gehört werde. Da bin ich sicher ein Teamplayer. Da ich nicht immer die richtige Meinung habe, ist es besser, wenn man das ausdiskutiert, um dann gemeinsam richtig zu entscheiden.
Hat es vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges den Gedanken gegeben, den Wechsel im Vorstand aufzuschieben?
Ich bin nicht vom Glauben der Unersetzbarkeit besessen. Es ist sehr positiv, dass wir mit Joachim Schönbeck einen sehr guten Nachfolger haben, der seit acht Jahren bei Andritz ist und mit dem ich intensiv zusammengearbeitet habe. Da habe ich volles Vertrauen und nicht die Spur einer Sorge, dass ich noch ein Jahr weitermachen müsste.
Keine Sekunde überlegt?
Nein. Bevor man 70 wird, sollte man bei einem börsenorientierten Unternehmen die letzte Ausfahrt nicht versäumen.
Warum haben Sie keine Frau für den Vorstand gesucht?
Es rückt Domenico Iacovelli in den Vorstand nach, der unter anderem unsere deutsche Tochter Schuler in einer wirklichen Existenzkrise sehr erfolgreich restrukturiert hat. Ihm einen Quereinsteiger oder wegen einer Quote eine Quereinsteigerin vor die Nase zu setzen, wäre nicht nur extrem unfair gewesen, sondern auch firmenschädigend, er ist sicher nicht abhängig von Andritz. Kontinuität, dass Leute sehen, wenn sie erfolgreich sind, auch aufsteigen können, ist wesentlich. Wir haben in der Gruppe nur 16 Prozent Frauen, wir tun viel, um Frauen zu ermutigen, Maschinenbau zu studieren.
Europa erlebt einen unvorstellbaren Krieg. Wie schätzen Sie dessen Auswirkungen ein?
Das hängt von der Dauer ab, unser Umsatz in Russland liegt bei drei Prozent. Die Sanktionen werfen für uns die schwierige Frage auf, was wir unseren langjährigen Kunden sagen sollen, die nichts dafür können. Russland wird von der Landkarte nicht verschwinden, die Russen werden nicht verschwinden, es wird eine Zukunft geben. 100 Millionen Umsatzverlust sind verkraftbar. Es geht darum, was ist moralisch, aber auch vernünftig für die Zukunft.
Was wäre denn vernünftig?
Die Reaktion der EU ist richtig und notwendig. Aber jetzt kommen auch die Versäumnisse ans Tageslicht. In der Verteidigungspolitik ist Europa nackt. Ohne jemanden mit einer transatlantischen Verbundenheit wie US-Präsident Biden kämen auf Europa interessante Zeiten zu. In der Energiepolitik bricht vieles, was jahrelang propagiert wurde, zusammen, auch die Logik vom Kohleausstieg. Die Energiewende ist gut, es läuft auch schon vieles, aber man war vielleicht ein bisschen einseitig Richtung Grün und NGO's unterwegs. Jahrelang wurde um eine CO₂-Abgabe gekämpft, damit der Verbrauch der fossilen Treibstoffe zurückgeht. Jetzt ist der Preis gestiegen und man verteilt Helikopter-Geld, damit die Leute gleich viel wie vorher verbrauchen. Das ist abstrus.
Finden Sie den CO₂-Preis jetzt gut oder schlecht?
Wenn die Energie sowieso schon viel teurer ist, dann wird es nicht sehr viel Sinn machen, den CO₂-Preis noch obendrauf zu geben. Europa macht mit 500 Millionen Menschen sechs Prozent der Weltbevölkerung aus. Wir nehmen uns überproportional wichtig und glauben, dass es wesentlich für die Welttemperatur ist, was wir tun. Als ich geboren wurde, hat es auf der Welt 2,8 Milliarden Menschen gegeben, heute gibt es acht, die zusätzlich und besser zu ernähren, ist eine Erfolgsgeschichte. Bis 2050 kommen zwei Milliarden dazu. Zu glauben, dass das spurlos an uns vorübergeht und wir eine Musterwirtschaft in Europa haben werden, halte ich für naiv. Anstatt hier in Europa Gartenzwerg-Politik zu machen, könnte man die Mittel besser einsetzen, indem man weltweit die schmutzigsten Kohlekraftwerke schließt, neue hinbaut, anstatt hier an irgendwelchen marginalen Prozentsätzen zu drehen.
Viele Industrielle warnen lautstark, die zerstörerischen Folgen, die ein Lieferstopp von russischem Gas für die österreichische, die europäische Wirtschaft hätte, zu unterschätzen. Fürchten Sie einen solchen Lieferstopp, bereitet Ihnen das Sorgen?
Andritz wäre nur indirekt durch Einschränkungen der Infrastruktur, etwa bei Strom betroffen. Die politische und militärische Schwäche der EU – demonstriert auch nach dem Einmarsch in die Krim – hat Russland zum Ukraine-Abenteuer ermutigt. Gleichzeitig hat die EU die Abhängigkeit sogar weiter erhöht – mit North Stream II und mit der Taxonomie-Verordnung, die auf Gas als Übergangstechnologie setzt. Firmen wurden zu Ausstiegsverpflichtungen gezwungen, nicht mehr nach Öl oder Gas zu suchen. Banken sollten das nicht mehr finanzieren. Aber: Russland nimmt derzeit pro Tag 800 Millionen Euro von der EU für die Gaslieferungen ein; das wird man nicht leichtfertig riskieren.
Wo spürt Andritz aktuell die Krise? Und wo liegt mittelfristig das Wachstumspotenzial?
Stahl, der viel aus Russland importiert wurde, ist im Preis stark gestiegen. Es gibt auch ein Exportverbot für Holz, das trifft die nordeuropäische Zellstoffindustrie. In Österreich ist der Holzpreis 20 Prozent höher, dadurch wird es zu wenig Biomasse geben. Es wird schon zu einer deutlichen Komplikation in der Wirtschaft kommen.
Welche Strategien verfolgt Andritz, wenn Europa in eine schwere Krise gerät und andere Weltmärkte sehr stark sind?
Es wird keine schwere Krise sein, wir werden Inflation haben. Europa ist flexibel und wird sich darauf einstellen. Andritz ist sehr stark über die Welt verteilt mit global identischer Technologie und Kompetenz. Wir ruhen auf einigen Beinen und sollten gut aufgestellt sein. Risikostreuung ist das Mittel der Wahl. Man sollte nicht zu sehr darauf vertrauen, Krisengefahren immer richtig einschätzen zu können.
Die Energiewende wird einen hochkomplexen Technik-Mix erfordern. Wo ist da für Andritz Potenzial?
Wir sind in der Wasserkraft und in der Biomasse sehr stark, im Wasserstoff-Bereich haben wir eine Reihe von ehrgeizigen Entwicklungsprojekten. Für die Zellstoffindustrie haben wir ein Verfahren entwickelt, wie man beträchtliche Mengen an Biomethanol (biogener Treibstoff, Anmerkung) erzeugen kann. Schuler ist auch bei der Brennstoffzelle tätig, der Batteriebereich bietet viele Chancen. Welcher Bereich sich da jetzt stärker entwickelt, da maße ich mir keine Prognose an.
Kommt es zu einer großen Renaissance der Wasserkraft?
Sie wird in Zukunft eine noch viel wichtigere Rolle spielen als bisher, wenn die Wasserstoffwirtschaft auch nur ansatzweise kommt.
Steigen Ihre beiden Kinder irgendwann bei Andritz ein?
Mein Sohn und meine Tochter haben beide Maschinenbau studiert. Beiden gefällt es, wo sie beruflich tätig sind, die haben bisher den Teufel getan, dorthin zu gehen, wo der Vater ist. Natürlich gibt es an Andritz ein Familieninteresse, das ist keine Frage, aber wir sind ein börsennotiertes Unternehmen und kein "Erbhof". Wir sehen das schon als langfristige Beteiligung – nur wenn die Kinder nach zehn oder zwanzig Jahren zu dem Schluss kommen, sie wollen weder zu Andritz gehen, noch wollen sie Aktionäre sein, dann werden sie das für sich entscheiden.
Wo möchten Sie Andritz in einigen Jahren sehen?
Größer, rentabler, technisch führend, so wie heute, idealerweise in mehr Gebieten noch führender als heute und, dass der Vorstand den richtigen Mittelweg findet zwischen Erneuerung und Kontinuität.