Die Wirtschaft im Euroraum wird nach Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB) trotz Belastungen infolge des Ukraine-Kriegs heuer wachsen. Selbst im "düstersten Szenario" gehe die Notenbank von einer wachsenden Wirtschaft aus, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Montag in Paris. Ein solches Szenario umschrieb sie mit inflationären Zweitrundeneffekten in Form deutlich steigender Löhne, einem Boykott russischer Energie sowie einem lang andauernden Krieg.

Die Eurozone und die USA werden aus Sicht von EZB-Präsidentin Lagarde in absehbarer Zukunft keinen Gleichklang in der Geldpolitik haben. Der Krieg in der Ukraine habe erheblich unterschiedliche Auswirkungen für beide Volkswirtschaften, sagte Lagarde am Montag auf einer Veranstaltung. "Unsere Geldpolitiken werden nicht in dem exakt gleichen Rhythmus laufen", sagte sie.

Die beiden Volkswirtschaften hätten sich bereits vor dem Krieg in der Ukraine an unterschiedlichen Stellen im konjunkturellen Zyklus befunden. "Aus geografischen Gründen ist Europa (dem Krieg) viel stärker ausgesetzt als die USA", sagte Lagarde. Die US-Wirtschaft sei weniger abhängig als die europäische von Rohstoffimporten.

Wachstum bleibt

Trotz der angespannten Lage werde es in der Eurozone kein Abrutschen in die Stagflation geben, ist EZB-Vizepräsident Luis de Guindos überzeugt: "In unseren jüngsten Prognosen sehen wir selbst in unserem schlechtesten Szenario für das laufende Jahr im Euroraum immer noch ein Wachstum von über zwei Prozent voraus, insofern also keine Stagflation", sagte de Guindos dem "Handelsblatt" (Montag).

"Aber es gibt voraussichtlich für einen längeren Zeitraum als vor dem Krieg erwartet eine höhere Inflation." Der Krieg in der Ukraine belastet die Wirtschaft im Euroraum und heizt die Energiepreise, die bereits zuvor Haupttreiber der Teuerung waren, weiter an. Zudem nehmen Lieferengpässe wieder zu. Daher werde das Wirtschaftswachstum auch deutlich niedriger ausfallen als noch im Dezember vorhergesagt.

Die EZB strebt für den gesamten Währungsraum der 19 Euroländer stabile Preise bei einer jährlichen Teuerungsrate von zwei Prozent an. Höhere Inflationsraten schmälern die Kaufkraft von Verbrauchern, weil sie sich für einen Euro dann weniger leisten können.

Lohn-Preis-Spirale verhindern

EZB-Vize de Guindos sagte im "Handelsblatt"-Interview: "Für uns kommt es jetzt darauf an, wie stark die Löhne reagieren. Denn wenn die Steigerungen zu hoch sind, kann das die Preise noch weiter hochtreiben und zu dauerhaft höherer Inflation beitragen." Bisher sehe die EZB keine Anzeichen, "aber wir müssen die Entwicklung genau beobachten".

Auch die Politik müsse ihren Beitrag leisten, eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale zu verhindern, forderte der EZB-Vizepräsident: "Der Preisschock bei Energie- und Rohstoffen, den wir momentan erleben, macht viele Unternehmen und Arbeitnehmer ärmer. Die Finanzpolitik sollte durch temporäre, gezielte Hilfen dazu beitragen, die Lasten zu verringern. Dies würde auch die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale reduzieren."

Aus Sicht von Lagarde werden zudem die Anstrengungen Europas im Kampf gegen den Klimawandel auf kurze bis mittlere Sicht die Inflation anschieben. Langfristig werde dies aber zu einer Senkung der Preise führen, führte sie aus. Die europäischen Staats- und Regierungschefs arbeiten an Plänen zur Beschleunigung des Wandels in Richtung einer "grünen" Wirtschaft. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Europäische Union nach Russlands Einmarsch in die Ukraine ihre Abhängigkeit von russischem Öl und Gas verringern will.