Wifo-Chef Gabriel Felbermayr meinte unlängst, die Sanktionen gegen Russland würden nicht so stark wirken wie zunächst angenommen. Warum ist das so?
ELISABETH CHRISTEN: Die Frage ist, welche Zielsetzungen verfolgt werden. Zum einen geht es um die Signalwirkung, dass rote Linie überschritten wurden, andererseits soll die Handlungsfähigkeit eines Staates eingeschränkt werden. Ziel ist es auch, einen Politikwechsel herbeizuführen und die Türe für diplomatische Verhandlungen offenzuhalten. Die Geschichte zeigt, dass Sanktionen wenig erfolgversprechend sind, um unmittelbar Handlungen zu verändern.
Und im konkreten Fall?
In Russland ist das besonders schwer – aufgrund der Größe, der Widerstandsfähigkeit und der starken russischen Handelsbeziehungen mit China.
Teilen Sie die Einschätzung, dass die Sanktionen nicht so stark wirken wie geplant?
Die Finanztransaktionen sind schon sehr umfassend und schmerzhaft für Russland, weil der Rubel radikal abwerten musste und die langfristige Finanzierung Russlands am Spiel steht. Zugleich muss man sagen, dass die Gas- und Ölexporte täglich Hunderte Millionen Euro in die russische Kriegskassa spülen. Die Sanktionen haben aber zu keinem Effekt geführt: Weder hat die militärische Aggression abgenommen, noch hat sich der humanitäre Korridor erfüllt. Die Sanktionen prallen scheinbar an der Führungselite in Russland ab – aber nicht an der Bevölkerung.
Steht die Staatspleite Russlands im Raum?
Ja, natürlich. Die Risikobewertungen für Russland sind nach oben geschnellt, die Refinanzierung ist geschwächt, die Zentralbank kommt nicht an ihre Auslandsvermögen heran. Wenn dann auch noch Öl-, Gas- und Rohstoffexperte massiv gekappt werden, fehlt das Geld in der russischen Staatskasse. Über kurz oder lang kann Russland keine Kredite mehr bekommen, der russische Staat wäre nicht mehr zahlungsfähig. Damit können auch lebensnotwendige Importe nicht mehr bezahlt werden. Eine Pleite würde die Lage für die Bevölkerung noch einmal dramatisch zuspitzen. Die Kaufkraft ist bereits in den Keller gestützt, die Importe haben sich ohnehin massiv verteuert.
Wie bewerten Sie die Abwehrstrategie der russischen Führung?
Die russische Wirtschaft hat die Lehren aus den Sanktionen 2014 nach der Annexion der Krim gezogen – die Devisenreserven betragen 630 Milliarden US-Dollar, die Hälfte davon wurde nun eingefroren, rund 22 Prozent ist in Goldreserven in Moskau angelegt, 14 Prozent in Yuan in China. Russland hat massiv Widerstandsfähigkeit aufgebaut, Putin hat versucht, sich von westlichen Importen unabhängiger zu machen und resilienter zu werden, beispielsweise im Agrarbereich.
Der Druck auf Putin kann nur über die Hebel Erdöl, Gas und Metalle erhöht werden?
Ja. Über das Öl- und Gasembargo sowie andere wichtige Rohstoffe, die Russland exportiert. Das ist aber mit Konsequenzen und Rückkoppelungen für Europa verbunden. Russland exportiert etwa Seltene Erden, aber auch massiv Düngemittel – der Düngemittelpreis ist in der EU wegen der Einschränkungen bereits nach oben geschnellt. Andere Länder sind ja noch stärker von russischem Gas abhängig als Österreich, etwa Bulgarien und Rumänien.
Die Solidarität innerhalb der EU könnte bröckeln?
Die Frage ist schon, wie es mit dieser Einigkeit weitergeht, wenn es um die heikleren Punkte geht – einerseits in der Flüchtlings- und Fiskalpolitik, andererseits in der Energieversorgung.
Warum schoss der Ölpreis derart nach oben? Noch gibt es kaum Ausfälle des Angebots.
Zum Teil schon. Russisches Öl wird von vielen Raffinerien und Energieunternehmen boykottiert. So kündigte Shell an, kein russisches Öl mehr zu kaufen. Der Boykott führt zur Angebotsverkürzung, das treibt den Ölpreis nach oben. Viele Reedereien schicken keine Tanker mehr nach Russland, Russland verfügt auch nicht über die Transportkapazitäten, das Öl anders loszuwerden.
Die Preise für Öl und Gas werden also weiter steigen, spätestens bei einem Embargo?
Man muss davon ausgehen, dass die Energiepreise in den nächsten Wochen und Monaten nach oben gehen und sich nicht so schnell entspannen werden. Das Damoklesschwert der EU, aus den Öl- und Gasimporten auszusteigen uns jenes, dass Russland den Gasexport stoppt, sind weiter da. Auch werden die Flüssiggasimporte aus anderen Ländern deutlich teurer, das wird sich auf die Inflationsrate durchschlagen. Der zweite Preistreiber sind die Lebensmittelpreise. Die Ukraine war ein wichtiger Lebensmittelexporteur, die agrarischen Rohstoffe werden sich stark verknappen.
Welche Lebensmittel sind besonders betroffen?
Österreich hat aus der Ukraine etwa sehr viel Ölfrüchte importiert, der Preis für Raps hat sich bereits vervierfacht, daraus ergibt sich eine unmittelbare Betroffenheit. Dazu kommen die hohen Düngemittelpreise. Lebensmittel betrifft es also doppelt – durch höhere Energiepreise und die Verknappung von Agrarstoffen wegen des Kriegs, weil die Ernte ausfallen wird.
Das klingt dramatisch.
In Österreich würde ich keine Versorgungsengpässe erwarten, aber andere Länder im nordafrikanischen Bereich oder im Nahen Osten wie Ägypten führen enorm viel Weizen aus der Ukraine ein. Diese Importe fallen jetzt weg, zusätzlich steigen Lebensmittelpreise. Es hat sich schon beim Arabischen Frühling gezeigt, dass die massiv hohen Nahrungsmittelpreise die soziale Stabilität dieser Länder massiv gefährden.
Die Schockwellen des Krieges reichen weit über Europa hinaus?
Das wird derzeit nicht mitgedacht, wie sehr die soziale Stabilität dieser Länder gefährdet ist und Hungerkrisen ausbrechen können, weil Lebensmittel für die Bevölkerung nicht mehr leistbar sind. Die Vereinten Nationen haben im Rahmen von Welternährungsprogrammen Agrarprodukte aus der Ukraine und Russland bezogen – für die ärmere Bevölkerung kann das massive Folgen haben, die wir noch gar nicht mitdenken.
Manche Experten sagen bereits einen Anstieg des Preises für ein Fass Rohöl (159 Liter) auf bis zu 300 Dollar voraus. Teilen Sie diese Einschätzung?
Was möglich ist und was nicht, ist noch schwer abzuschätzen – weil wir nicht wissen, inwieweit russisches Öl für den Markt noch zur Verfügung stehen wird. Jetzt also eine Preisobergrenze zu nennen, ist unrealistisch.
Fällt das bisherige Allzeithoch von 150 Dollar aus dem Jahr 2008?
Diese Marke wird sicherlich fallen. Wie weit es nach oben geht, hängt von der weiteren Entwicklung ab: Von jener des Konfliktes und davon, wie massiv die Wirtschaftsleistung im Westen zurückgeht. Denn wenn die Nachfrage nach Öl sinkt, kommt es wieder zu Anpassungen nach unten. In den nächsten Monaten aber wird der Ölpreis noch nach oben gehen. Wenn Hungerrevolten in den nordafrikanischen Ländern entstehen, und die sind auch nicht so weit entfernt, kann das noch zusätzliche Schockwellen für die EU bedeuten.
Wie kann man gegensteuern?
Etwa mit einem Überdenken der Agrarpolitik in der EU, indem man versucht, im Rahmen der europäischen Solidarität mit Exporten aus der EU die Not dieser Länder abzumildern.
Wie wirken sich die Verwerfungen auf den Außenhandel aus?
Zu Jahresende 2021 hatte sich eine Entspannung in den Lieferketten angezeigt. Natürlich hat die aktuelle Krise die Lieferkettenproblematik weiter verschärft. Österreichs Außenhandel hat zuletzt wieder stark angezogen. Die jetzige Fallhöhe ist daher sehr hoch.