Die vom Arbeitsministerium organisierte Enquete zur Arbeitslosenversicherung soll neue Impulse zur geplanten Reform liefern. Es gehe um "einen parteiübergreifenden Austausch ohne Scheuklappen", sagte Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) am Montagnachmittag bei der Enquete in der Wiener Hofburg. Vor Ort waren unter anderem Vertreter der Parlamentsparteien, der Wissenschaft und Sozialpartnerschaft.

Details zur Reform wollte Kocher erneut nicht nennen. Man werde nach der Enquete mit der Ausarbeitung der Reformdetails starten. Es gebe nur "sehr vage Festlegungen im Koalitionsvertrag" im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, so der Arbeitsminister. Kocher will heuer im ersten Halbjahr die lang angekündigte Reform der Arbeitslosenversicherung vorlegen. Eine Abschaffung der Notstandshilfe ist nicht geplant. Besonderen Fokus will der Arbeitsminister auf die Höhe des Arbeitslosengeldes und Zuschläge, Zuverdienst und Sanktionen legen.

Ende Februar waren 377.000 Menschen in Österreich ohne Job und 187.000 Personen zur Kurzarbeit vorangemeldet. Die Arbeitslosenquote lag bei 7,3 Prozent und 119.000 offene Stellen waren beim Arbeitsmarktservice (AMS) als sofort verfügbar gemeldet. "Wir haben ein System der Arbeitslosenversicherung, das gut funktioniert. Es hat sich über viele Jahre gut bewährt", sagte der Arbeitsminister. "Das soll auch so bleiben." Als größeres Problem sieht Kocher, dass sich die Arbeitslosigkeit teilweise verfestigt habe. Ziel der Reform sei es, dass "Menschen rascher in Beschäftigung" kommen.

ÖVP und Grüne müssen Kompromiss finden

Arbeitsminister Kocher hat im Herbst einen "Reformdialog" zur Arbeitslosenversicherung gestartet und unter anderem mit den Sozialpartnern, AMS-Vorständen, Wirtschaftsforschern, Unternehmern und von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen gesprochen. Außerdem besuchte er Schweden, Litauen, USA, Griechenland und Dänemark. Der Diskussionsprozess finde mit der Enquete am Montag "seinen Höhepunkt", sagte Kocher.

Die Regierungsparteien ÖVP und Grüne müssen sich nun auf eine gemeinsame Reform der Arbeitslosenversicherung einigen. Das Arbeitsministerium will einen Vorschlag erarbeiten, der regierungsintern beraten werden soll. ÖVP-Klubobmann und Sozialsprecher August Wöginger warb für ein Stufenmodell beim Arbeitslosengeld. Die Reform müsse "kostenneutral" sein, betonte Wöginger bei einer Diskussionsrunde der Parlamentsparteien bei der Enquete. Es gebe "viele Schrauben". Der Grüne-Sozialsprecher Markus Koza zeigte sich verhandlungsbereit. Er will aber keine Verschlechterung beim Arbeitslosengeld. "Wir waren nie besondere Fans des degressiven Modells." Wenn es zu einer Verbesserung führe, dann sei man dafür. Wenn es zu einer Verschlechterung führe, dann seien die Grünen "sicher nicht dafür zu haben", so Koza. "Ich glaube nicht, dass es das gänzlich zum Nulltarif gibt." Bei der Finanzierung des degressiven Modells sehe er aber nicht das große Problem.

SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch wollte nicht "das bestehende System schlechtreden". Er sei aber bereit, über Stellschrauben zu reden. Die SPÖ unterstütze jede Reform, "die Menschen aus der Armut herausholt". FPÖ-Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch warnte davor, die Arbeitslosengeld-Nettoersatzrate unter 55 Prozent zu senken. Ein degressives Arbeitslosengeld, das nicht mehr kostet, hält Belakowitsch für nicht realistisch. NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker kann sich eine zeitliche Befristung der Notstandshilfe und eine Absenkung der Nettoersatzrate auf 45 Prozent vorstellen. Man sei in einer Phase, wo sehr viele Arbeitskräfte gesucht würden. Deswegen dürfe man "nicht mehr Geld in die Arbeitslosenversicherung pumpen", so Loacker.

"Standort bestimmt stark den Standpunkt"

Bei der Enquete fanden drei Arbeitsgruppen statt, die von den AMS-Vorständen Johannes Kopf und Herbert Buchinger sowie die Arbeitsministeriums-Generalsekretärin Eva Landrichtinger koordiniert wurden. "Der Standort bestimmt stark den Standpunkt", so AMS-Vorstand Kopf im Hinblick auf die Erfahrungen von Unternehmen und Arbeitsloseninitiativen. "Es gibt nicht das optimale System." Die geplante Arbeitslosengeld-Reform mache es "in dieser Regierungskoalition spannend", so Kopf. Thema in der Arbeitsgruppe sei auch eine stärkere Differenzierung der Arbeitslosenversicherung, die problematische Stufe bei der Geringfügigkeitsgrenze und fehlende Kinderbetreuung. In der zweiten Arbeitsgruppe wurde unter anderem über den Fachkräftemangel, das degressive Arbeitslosengeld und die Geringfügigkeitsgrenze debattiert, berichtete AMS-Vorstand Buchinger. Bei der dritten Arbeitsgruppe, die online stattfand, sei es unter anderem um die Höhe des Arbeitslosengeldes, Armutsbekämpfung, klare Reformziele und Saisonarbeitslosigkeit gegangen, so Arbeitsministeriums-Generalsekretärin Eva Landrichtinger.

"Sehr lange nichts verändert"

Der OECD-Arbeitsmarktexperte Herwig Immervoll verwies darauf, dass sich in Österreich bei der Arbeitslosenversicherung "sehr lange nichts verändert" habe und es "keine wesentlichen Reformen" gegeben habe. Das aktuelle System sei, "so wie es in den 1990er-Jahren konzipiert wurde", sagte Immervoll bei der Enquete. "Es ist sehr positiv, diese Diskussion zu führen." Der OECD-Experte plädiert für eine bessere Verzahnung bei den Arbeitslosen- und Sozial-Transferleistungen. Hier könne es zu "einer Inaktivitätsfalle" kommen.

Für die Volkswirtschaft-Professorin an der Uni Erlangen-Nürnberg, Veronika Grimm, müssten Arbeitnehmer in alternden Gesellschaften länger arbeiten. "Man muss aber den Menschen ermöglichen länger zu arbeiten, da ist die Politik gefragt." Dringenden Handlungsbedarf sieht Grimm auch beim Ausbau der Kinderbetreuung, um die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern zu reduzieren. Grimm ist seit April 2020 auch Mitglied des Sachverständigenrates.

Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, Bernd Fitzenberger, verwies darauf, dass eine längere Arbeitslosengeld-Bezugsdauer einen negativen Effekt für einen kleinen Teil der Arbeitslosen habe. "Der Großteil der Arbeitslosen findet sehr schnell einen Job. Das ist immer ein Übergangsphänomen", sagte Fitzenberger. Der Arbeitsmarktexperte empfiehlt der Politik, den Anteil der Teilzeitbeschäftigung zu senken. "Das wäre ein wichtiger Paradigmenwechsel." Eine deutliche Verschärfung der Arbeitslosengeld-Sanktionen ist für Fitzenberger "nicht der ideale Weg". Dies würde "nicht zu guten stabilen Arbeitsplätzen" führen. "Die Sanktionen allein werden es nicht richten", so der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Der Leiter des Münchner ifo-instituts, Andreas Peichl, verwies auf die notwendige Weiterbildung von Arbeitslosen. "Das ist eines der großen Probleme." Außerdem müsse man auf Ursachensuche gehen, warum viele Fachkräfte fehlen. Bei der Qualifizierung könne man politisch etwas machen. Wenn aber Menschen den Job nicht machen wollen, dann müssen die Arbeitgeber sich etwas überlegen, dass man die Stellen attraktiver mache, so Peichl.

Höheres Arbeitslosengeld gefordert

Im Vorfeld der heutigen Enquete zur Arbeitslosenversicherung forderten SPÖ, ÖGB, Armutskonferenz, Volkshilfe und Caritas eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes. SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch, ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian und Grüne-Arbeits- und Sozialsprecher Markus Koza sprachen sich für eine Anhebung der Netto-Ersatzrate von 55 auf 70 Prozent aus. Der Zuverdienst soll bestehen bleiben. Für ÖVP-Klubobmann und Sozialsprecher August Wöginger muss das Ziel der Reform sein, den Arbeitskräftemangel weiter zu beheben. Der ÖVP-Wirtschaftsbund forderte mehr Anreize beim Arbeitslosengeld, um die Langzeitarbeitslosigkeit zu senken. Auch die Industriellenvereinigung drängt auf mehr Beschäftigungsanreize.