Sie waren selbst Energie- und Wirtschaftsminister, haben in dieser Funktion im Jahr 2006 auch den kurzfristigen, aber markanten Gaslieferausfall miterlebt – sind die Sorgen über die Gasversorgung berechtigt?
MARTIN BARTENSTEIN: Wenn uns unsere Experten sagen, dass wir mit den Gasreserven kurzfristig einmal auskommen, gut so. Aber man wird sich ernsthaft auf den nächsten Winter vorbereiten müssen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, dass man auch mit dem Schlimmsten, dem Worst Case, rechnen muss. Man muss schon festhalten, dass sich Russland immer verlässlich an die Lieferverträge gehalten hat, auch während des Kalten Krieges. Doch Putin ist nicht zu trauen, das mussten wir lernen. Er hat zwar die Welt in den vergangenen Wochen beispiellos zum Narren gehalten, er kann aber kein Interesse daran haben, dass Erdgaslieferungen gestoppt werden. Natürlich nicht aus Sympathie gegenüber Europa ...

Sondern?
Weil das der wirtschaftliche Ast ist, auf dem Russland sitzt, es gibt also eine gegenseitige Abhängigkeit. Stoppen sie die Gaslieferungen, schneiden sie sich diesen Ast ab. Russland ist militärisch unter Putin stark geworden, und das demonstriert er gerade. Leider, füge ich hinzu. Aber wirtschaftlich ist Russland, das flächenmäßig größte Land der Erde mit 144 Millionen Einwohnern, schwach. Russlands BIP, also die gesamte Wirtschaftsleistung, ist gerade einmal dreieinhalb Mal so groß wie jenes von Österreich und allein das BIP von Deutschland ist mehr als zweieinhalb Mal so groß wie das von Russland. Militärisch sieht die Sache leider anders aus, dieser Angriffskrieg von Putin, mitten in Europa, ist einfach unfassbar.

Auch in Ihrer Zeit als Minister brandete immer wieder die Debatte darüber auf, wie sich Europa unabhängiger von russischem Gas machen könnte. Sind wir da seit damals auch nur einen Schritt weitergekommen?
Nein, nein, in keiner Weise. Diese Abhängigkeit ist nach wie vor gegeben.

Wird sich das jetzt ändern?
In den letzten Wochen wurde massiv daran gearbeitet, LNG-Flüssiggaslieferungen kurzfristig nach Europa umzuleiten. Man kann das Gas-Thema nicht von heute auf morgen ändern, aber zumindest Gewichte verschieben. Im Handumdrehen wegwischen, lässt sich diese Abhängigkeit jedoch nicht.

Auch eine besser abgestimmte, gemeinsame EU-Energiepolitik wurde immer wieder beschworen. Könnten diese Entwicklungen nun eine Initialzündung dafür sein?
Es gab zwar Fortschritte, die Energiepolitik ist aber im Wesentlichen Sache der Mitgliedsstaaten. Ich glaube, dass jetzt insgesamt viele in Europa aufgewacht sind. Im Übrigen hoffentlich auch so mancher Putin-Versteher im Land, bei uns in Österreich ist ja die Dichte an Putin-Verstehern europaweit besonders hoch.

Liegt das auch daran, dass Österreichs Wirtschaft traditionell immer enge Beziehungen mit Russland pflegte? Was von außen ja auch kritisch beäugt wurde.
Man kann und soll ein Transatlantiker sein, ein Freund der USA – und trotzdem auch ein Freund Russlands. Es ist auch wichtig, zu unterscheiden, zwischen den Bürgern des Landes, den Russinnen und Russen, und Putin, der ja in einer egomanischen Art und Weise abgehoben ist, von all dem, was im Land vor sich geht. Aber man kann das, was Putin mit diesem Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat, nur auf das Schärfste verurteilen. Die Heimat der Putin-Versteher ist politisch nicht einzuordnen, die reicht von ganz links bis ganz rechts, das Beste, was diese Herrschaften jetzt tun können, ist schweigen. Schweigen und in sich gehen.

Was bedeutet diese Eskalation, dieser Krieg perspektivisch für das globale Wirtschaftsgefüge?
Was Putin gelungen ist, wahrscheinlich nicht so von ihm erwartet und das ist auch gut so, dass der Westen in einer Form geeint ist, wie das in den letzten Jahrzehnten nicht der Fall war. Er wird von der internationalen Staatengemeinschaft in einer Weise geächtet, wie er das wohl nicht erwartet hat. Dementsprechend wird auch mit Sanktionen reagiert, die weit über das hinaus gehen, was wir bisher gesehen haben.

Wie treffen diese Sanktionen auch Europa selbst?
Sie werden auch bei uns, in Europa und speziell in Österreich, Schmerzen verursachen. Aber sie müssen solidarisch mitgetragen werden, da kann es keine Debatte geben. Dieser gewohnte Schlendrian, Sanktionen zwar einzuführen, aber dann doch wieder nicht wirklich, mit dem Hinweis, man wird sich doch nicht selber schaden, dieses Bild hat sich um 180 Grad gedreht.

Im Pharmaindustriesegment Ihrer Unternehmensgruppe entfallen rund fünf Prozent des Geschäfts auf den russischen Markt. Mit welchen Folgen rechnen Sie durch die Sanktionen?
Fünf Prozent sind verkraftbar, aber doch signifikant. Grundsätzlich ist jetzt mit allem zu rechnen. Wir wissen zwar aus bisherigen Erfahrungen, dass Arzneimittel im Regelfall vom Sanktionsregime ausgenommen sind, aber wenn der Zahlungsverkehr lahmgelegt ist, dann erübrigen sich diese Lieferungen.

Wie sieht diese Geschäftsbeziehung aus?
Das läuft über eine strategische Partnerschaft mit kanadischen und US-amerikanischen Unternehmen, das sind Arzneimittel, u. a. im Indikationsbereich Epilepsie, aber auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die werden in großen Volumina nach Russland geliefert. Dieses Business steht seit Donnerstag, 3.30 Uhr morgens, infrage. Aber da gibt es andere Unternehmen, die da jetzt Probleme ganz anderer Natur haben.

Die Gesamtkulisse ist trotz zuletzt guter Wachstumszahlen – auch abseits des Krieges – enorm fordernd. Wir erleben eine Preisexplosion, brüchige Lieferketten und es gibt da auch noch die Pandemie. Wie geht man als Unternehmer mit so vielen Unwägbarkeiten um?
Mit aller Vorsicht, als Unternehmer sollte man derzeit dick und warm angezogen sein, auch was Dinge wie Eigenkapital und Liquidität betrifft. Wir sind im Pharmabereich, aber auch im Bereich der Industrielogistik mit der Verknappung von Teilen konfrontiert. Mehr als die Kosten beschäftigt uns die Verfügbarkeit – diese Probleme sind in den letzten Wochen nicht kleiner, sondern größer geworden. Es kommt vieles zusammen, in solchen Phasen muss man mit allen Eventualitäten rechnen, da lässt sich vieles nicht planen.

Ist die Pandemie überstanden?
Wir können nur hoffen, dass die Omikron-Welle nun der Beginn eines Übergangs von einer Pandemie in eine Endemie ist, aber kein Wissenschaftler der Welt kann vorhersagen, ob in den nächsten Wochen nicht eine Mutation auftaucht, die uns wieder sehr zu schaffen macht. Deswegen bin ich auch in der Pandemie auf der Seite derjenigen, die zur Vorsicht mahnen, auch in Bezug auf Öffnungsschritte. Auch wenn das politisch nicht einfach durchzuhalten ist, wie aktuelle Wahlergebnisse in Gemeinden zeigen.

Wird der zuvor angesprochene Zusammenhalt auch auf die zuletzt stark von Scharmützeln geprägte österreichische Innenpolitik abfärben?
Das muss so sein. Das kleine Österreich muss in Sachen Russland und Ukraine jetzt mit einer Stimme sprechen. Niemand darf jetzt versuchen, politisches Kleingeld daraus zu schlagen. So vernünftig, wird das politische Wien wohl sein.

Viele Menschen sind nun auf der Flucht aus der Ukraine, wie sollte Österreich reagieren?
Wie beim Ungarn-Aufstand 1956. Da geht es um europäische Nachbarn, die unsere Hilfe brauchen. Die müssen und werden sie auch bekommen. Kanzler Nehammer hat hier die richtigen Worte gefunden.