"Fast Fashion neu erfunden“, titelt der Guardian. „Gefährliche Verführung für Teenager“, schreibt die Frankfurter Allgemeine. „Welteroberung mit Tiefstpreisen“ die Times. Die Rede ist vom chinesischen Online-Modehändler Shein, auszusprechen wie das englische She und In. Shein, gegründet 2008, ist die aktuell schnellstwachsende Modemarke weltweit und einer der ganz großen Gewinner des Pandemiejahres 2021.
Der Wert des Unternehmens wird aktuell auf 30 Milliarden US-Dollar geschätzt. Shein produziert sogenannte „Ultra Fast Fashion“ (steht für „ultraschnelle Mode“), ein Geschäftsmodell, bei dem die Kollektionen schnell und trendbezogen designt und zu extrem niedrigen Preisen produziert und verkauft werden.
In China selbst ist Shein kaum bekannt. Wohl aber werden internationale Märkte bedient, mehr als 200 Länder beliefert. Fast Fashion-Marken wie H&M und Zara haben das Nachsehen. Shein schafft es, günstiger, schneller und digital ungezwungener, ja ungenierter aufzutreten als Diskontermode dies bisher tat. Durchgängig gibt es hohe Rabatte, Tops kosten oft nicht einmal drei Euro, Jeans vier Euro, ein Kleid zwei Euro, ein Pulli acht Euro. Ab 39 Euro ist die Lieferung kostenlos – um diesen Wert kann man sich ein komplettes Outfit inklusive Jacke und Schuhen zusammenstellen. Shein ist – unmöglich billig.
Das Unternehmen, das sich der Presse gegenüber bedeckt hält, lässt Mode quasi in Echtzeit produzieren. Es ist das weltweit erste „Real Time“-Modeunternehmen. Tausende neue Styles kommen auf der App pro Tag (!) dazu. Shein spricht von einem „automatisierten Nachbestell-System“ – bei rund 6000 chinesischen Textilfabriken, ein Algorithmus. Einzelhändler werden umgangen.
Während der Lockdowns waren die ständig wechselnden Angebote auf der Shein-Website, die sozialen Interaktionen über die Shein-App und die erschwinglichen Warensendungen für viele junge Menschen eine der wenigen Freuden. Im Mai katapultierte sich die Shein-App zur meistbesuchten Shopping-App in den USA und danach in weiteren 50 Ländern. Laut dem Analyseportal Similarweb ist Shein aktuell die zweiterfolgreichste Bekleidungsseite weltweit.
Bestellen. Anziehen. Fotografieren. Posten
Soziale Medien wie Instagram oder Pinterest, auf denen Stilvorlieben gerne geteilt werden, nutzt Shein geschickt als Marketingforen. Auf TikTok erhält keine Modemarke aktuell so viel Aufmerksamkeit. Mehr als 18 Milliarden Aufrufe hat der Hashtag #Shein auf diesem Schauplatz. Sogenannte „Shein-Hauls“, Einkäufe im Sinne von Fängen oder Beutezügen, sind fast immer ein Erfolgsgarant für Videos: Man filmt sich selbst dabei, wie man die bestellten Päckchen oder Säckchen auspackt. Bestellen. Anziehen. Fotografieren. Posten. Anschließend kann das Stück dann häufig weg.
Aus der Haltung, ein Kleidungsstück sei „verbrannt“, nachdem Besitzer es einmal auf ihrem Social-Media-Account präsentiert haben, hat Shein ein Geschäftsmodell gemacht. Das Unternehmen hat sich mit unzähligen Mikro-Celebreties und C-Promis „verpartnert“: Mode-Bloggerinnen, Reality-Show-Kandidaten, die mit ihren Shein-Teilen angeben. Im August dieses Jahres soll die Shein-Homepage 150 Millionen Besucher gehabt haben. Auf Angebote folgen nicht zwölf und mehr Seiten lange Nutzer-Kommentare wie „Ich liebe das Material“ oder „So niedlich“.
Erhöhtes Suchtpotenzial für Jugendliche
Doch der schöne „Schein“ des bequemen Kaufrausches wirft Schatten. Designer bezichtigen den Handelsrebellen, ihre Entwürfe gestohlen zu haben. Unter anderem sehen offenbar Levi Strauss und Dr. Martens Markenverletzungen.
Psychologen sehen auch ein erhöhtes Suchtpotenzial für Jugendliche. Die britische „Times“ kommentiert, dass die an Casino-Spiele erinnernden digitalen Verkaufsinstrumente mit Livestreams, Countdowns, Aufgaben und Zielen, an deren Ende Rabatt-Gutscheine warten, die Konsumenten bewusst manipulierten, noch mehr zu kaufen. Shoppen – ein Kinderspiel. Und auch die Umwelt zahlt dafür einen Preis.
Bereits jetzt gilt: Die globale Textilindustrie verursacht jährlich 1,2 Milliarden Tonnen CO2 – und damit mehr als internationale Flüge und Kreuzfahrten zusammen. Die Modeindustrie als Teil der Textilbranche ist allein für fünf Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Das „Wegwerf“-Prinzip ist kein neues, aber ein wachsendes Phänomen. Auf dem Fachmagazin „Nature Reviews Earth & Environment“ wurde 2020 eine Analyse veröffentlicht, wonach sich die durchschnittliche Verwendungsdauer von Kleidungsstücken seit 2005 um 36 Prozent verringert hat.
Zudem wird im Fall von Shein jedes einzelne Paket – auch an Kunden in Europa – direkt aus China versendet. Über die Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern ist kaum etwas bekannt. Die schlechte Qualität der Kleidungsstücke wird vielfach bemängelt. Der Großteil der Produkte besteht aus Polyester.