Die Reform der Arbeitslosenhilfe läuft weniger im Zeichen drohender Massenarbeitslosigkeit als vor dem Problem eines "Mismatch", also einer Kluft zwischen offenen Stellen und dem Angebot an Arbeitskräften, waren sich Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP), Wifo-Chef Gabriel Felbermayr und der designierte IHS-Chef Lars Feld am Dienstag in einer Diskussion einig. Wenn dann sei ein Mangel an Arbeitskräften oder zumindest Facharbeitern das Thema.
In Deutschland sehe man bereits am Arbeitsmarkt die Knappheiten, die sich aus dem demografischen Wandel ergeben, Österreich sei da zehn Jahre später dran als Deutschland, so Felbermayr. Schon jetzt gebe es in Österreich gemessen an der Erwerbsbevölkerung so viele freie Jobs wie in den 1970er-Jahren. Themen müssten daher sein, wie man die Gesundheit der Arbeitenden und ihre Qualifikation erhalten, wie man Flexibilität im Job mit Lebensphasen in Übereinstimmung bringen könne. "Da geht es sehr viel breiter als nur um Fragen wie Zumutbarkeitsgrenzen oder Degressivität (des Arbeitslosengeldes)".
Senioritätsprinzip sorgt für Skepsis
Kocher wies auch darauf hin, dass die Regeln zur Altersteilzeit noch einmal angeschaut werden müssten - "gerade das Blocken ist ein Punkt, der vielleicht nicht ganz im Sinne der Erfindung der Altersteilzeit ist", da es ja um Teilzeit gehe, wenn man nicht mehr voll arbeiten könne oder wolle. Für Feld ist ein Kündigungsschutz für Ältere genau für diese älteren Menschen ebenso ein Problem, wie der automatische Anstieg der Löhne mit dem Alter, da dieses Senioritätsprinzip dazu führe, dass ältere Menschen mehr kosten als jüngere. Die ganzen Vorruhestandsregeln seien "im Grunde schädlich für Arbeitnehmer", besser wäre es, wenn Menschen so lange arbeiten, wie sie können.
Auch Felbermayr weist darauf hin, dass die automatischen Lohnerhöhungen nach Regeln der Seniorität die Beschäftigung der Älteren eingrenze. "Da ist ein kultureller Wandel nötig", es müsse gegen Ende der Arbeitszeit auch eine Phase geben, in der man weniger verdienen kann. Wer im Alter gekündigt wird, hat die geringsten Chancen, wieder einen Job zu finden, ergänzte Kocher. Lohnkurven seien allerdings eine Entscheidung der Sozialpartner.
Vermittlung durch AMS als zentrales Element
Ausdrücklich wiesen die drei Wirtschaftsforscher darauf hin, dass eine Reform nicht nur bei den Arbeitslosen ansetzen dürfe. Das Arbeitsmarktservice (AMS) habe große Fortschritte gemacht, betonte Kocher, am Ende müsse es aber darum gehen, Menschen schneller zu vermitteln. Könnte man die Dauer bis zum neuen Job um 10 oder 15 Tage verkürzen, dann gäbe es "ein riesiges Einsparungspotenzial", das Geld könnte für schwer vermittelbare Menschen genutzt werden. Felbermayr verwies darauf, dass Ökonomen gerne theoretische Modelle entwickeln würden, aber letztlich entscheide oft die Qualität der konkreten Vermittlung im AMS, nicht die Theorie.
Das Verhalten der Arbeitgeber sei ebenfalls sehr entscheidend. So entstehe ein Prozentpunkt der Arbeitslosigkeit laut einer Wifo-Studie dadurch, dass Firmen ihre Beschäftigten für eine kurze Zeit und mit einer Wiedereinstellungszusage in die Arbeitslosigkeit schicken, so Felbermayr. "Auch darauf muss man schauen". So könnte man Firmen, die selten Mitarbeiter kündigen, mit niedrigeren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung belohnen - und umgekehrt. So ein "Experience Rating" gebe es auch in anderen Versicherung.
Knappheiten als neue Normalität
Kocher vermutet zwar, dass das Einsparungspotenzial heutzutage geringer ist als zur Zeit der damaligen Wifo-Studie, ganz grundsätzlich müsse man aber für mehr "Verbindlichkeit" bei den Jobgesprächen sorgen. Denn wenn es für Unternehmen bequemer sei, arbeitsunwilligen Kandidaten schnell einen Stempel zu geben, statt mit dem AMS zusammenzuarbeiten, dann werde die Umsetzung einer Reform schwierig.
Ganz grundsätzlich müsse man sich darauf einstellen, dass Knappheiten ganz normal werden, die Demografie werde ganz anders sein, so Kocher. Auch müsse die Arbeitsmarktpolitik von Tirol oder Oberösterreich mit quasi Vollbeschäftigung bis Wien mit Arbeitslosenraten über 10 Prozent funktionieren. Auch dieser regionale "Mismatch" sei "enorm ausgeprägt" und müsse berücksichtigt werden. Positiv sei, dass durch Corona sich zwar die Art zu arbeiten in Österreich geändert habe, nicht aber die Motivation. Auch Kurzarbeit habe in Österreich nicht zu einer riesigen Menge an brachliegendem Arbeitskräftepotenzial geführt. Bei 40.000 Kurzarbeitern im Sommer, die im Schnitt mit 60 Prozent gearbeitet haben, könnte es vielleicht ohne Kurzarbeit etwa 10.000 zusätzliche Arbeitskräfte geben, rechnete er vor. Aber dem stehe gegenüber, dass seit dem Beschäftigungsrekord im Mai noch einmal 50.000 unselbstständig Beschäftigte dazu gekommen seien. "Ich werde oft gefragt, wo sind denn die ganzen Menschen - die arbeiten alle!", so Kocher.
Die Reform der Arbeitslosenunterstützung will Kocher "möglichst früh" im ersten Quartal 2022 als Paket vorlegen. Diskussionen über einzelne Punkte wie die Zumutbarkeitsregeln oder die Höhe der Unterstützung will Kocher davor nicht führen - es zeige sich, dass die Summe der Maßnahmen entscheidend sei.