"Historisch“ – diese Zuschreibung fällt im Zusammenhang mit Entwicklungen am österreichischen Arbeitsmarkt in den vergangenen eineinhalb Jahren besonders häufig. Im Frühjahr 2020 wurde als direkte Folge des Pandemieausbruchs die bisher höchste Zahl an Arbeitslosen gemessen. 588.200 Personen waren Ende April 2020 ohne Job, mehr als eine Million Beschäftigte in Kurzarbeit.
Blende in den Herbst 2021: Die Arbeitslosigkeit, inklusive Schulungen, ist in der ersten Oktober-Woche – mit rund 335.000 – erstmals seit Ausbruch der Pandemie auf das Vorkrisenniveau von 2019 gesunken. Und den Zusatz „historisch“ gibt es bereits seit einigen Monaten nur noch im Zusammenhang mit der Zahl der offenen Stellen zu hören. Allein beim AMS waren es zuletzt knapp 114.000 – so viele wie noch nie.
In ähnlicher Dramatik, wie noch im Vorjahr das Ausmaß der Arbeitslosigkeit beschrieben wurde, wird heute der Personal- und Fachkräftemangel in einer wachsenden Zahl an Branchen bewertet. Laut Angaben der Unternehmensberatung „mrp Hotels“ fehlen in Österreich mehr als 50.000 Arbeitskräfte im lange so stark von Lockdowns und Reisebeschränkungen gebeutelten Tourismus. Im Handel sind es bundesweit laut Handelsverband mehr als 20.000 Stellen, die nicht besetzt sind, davon gut 10.000 allein im Lebensmittelhandel. In den IT-Berufen fehlen 24.000 Fachkräfte, heißt es in einer Studie des industriewissenschaftlichen Instituts. Die Transportwirtschaft spricht unterdessen von bis zu 8000 fehlenden Lkw-Fahrernund sieht in manchen Bereichen sogar schon die Versorgungssicherheit gefährdet. Und die jüngste Konjunkturerhebung unter Österreichs Gewerbe- und Handwerksbetrieben hat ergeben, dass der zusätzliche Personalbedarf bei 35.000 Beschäftigten liegt, teilweise müssen Aufträge abgelehnt werden.
„Der starke Aufschwung nach dem steilen Abfall hat noch stärker als andere Aufschwünge zu einem starken Anstieg an offenen Stellen geführt“, meint Martin Wagner, Professor für Makroökonomik und quantitative Wirtschaftsforschung an der Uni Klagenfurt. „Es dauert diesmal noch länger, bis sich das alles aussortiert.“ Dazu komme, dass, etwa in Bezug auf Saisonniers, „ausländische, oftmals billigere Arbeitskräfte, weniger oder schwerer ins Land kommen.“ Im Tourismus führte die Pandemie dazu, dass weniger „Junge“ sich ausprobieren. Die Liste ließe sich noch um zahlreiche weitere Branchen erweitern, kaum ein Bereich, der aktuell nicht von akuten Mangelerscheinungen auf der Personalebene betroffen wäre. „Mittel- bis langfristig wird für die österreichische Wirtschaft das Thema Arbeitskräfte wichtiger sein als die derzeit ebenfalls prominenten Schwierigkeiten in den Lieferketten, diese werden sich einpendeln“, erwartet Wagner.
Der Soziologe Dieter Bögenhold sieht in seinem Befund eine Reihe von Ursachen für diese Entwicklung. Zweifellos zeigten sich Asymmetrien in der Gesellschaft zwischen nachgefragten Berufs- und Arbeitsprofilen und dem Pool an Qualifikationen möglicher Arbeitnehmer. Die Qualifikation der Erwerbstätigen hält nicht mit den sich häufiger ändernden Anforderungen mit. Es fehlt an einer späteren institutionellen Ausbildung, damit lebenslanges Lernen möglich wird. „Die permanente Bereitschaft zur Aufnahme neuer Techniken und Inhalte ist nicht nur ein Schlagwort“, sagt Bögenhold in Hinblick auf Art und Weise, wie die Digitalisierung den Kanon an Berufen, Qualifikationen, Firmen und Märkten teilweise revolutioniere.
Doch lässt sich die akute Personalnot auch kurzfristig zumindest lindern? Der steirische Industrie-Präsident Stefan Stolitzka appelliert, als Sofortmaßnahmen die Kinderbetreuung massiv auszubauen und zudem die Rot-weiß-Rot-Card so zu reformieren, dass qualifizierter Zuzug nicht durch langwierige bürokratische Hürden erschwert wird. Und wie helfen sich die betroffenen Betriebe? Immer mehr Handwerks- und Gastronomiebetriebe reduzieren, zum Leidwesen der Konsumenten, beispielsweise ihre Betriebszeiten, erhöhen die Zahl der Ruhetage. Zum einen, weil es sich anders nicht mehr ausgeht, zum anderen erhoffen sich einige Betriebe dadurch auch, für ihre Mitarbeiter attraktiver zu werden, weil Freizeit einen immer höheren Stellenwert einnimmt.
"Es geht auch um bessere Arbeitsbedingungen"
Letztlich, so der Appell von Martin Wagner, bedarf es nachhaltiger und langfristiger Änderungen: Dafür müssen sich beide Seiten – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – an einen Tisch setzen: „Es geht um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in Verbindung mit höherer Produktivität auf der einen Seite und mehr Flexibilität und Mobilität über Regionen und Sektoren hinweg.“ Einen Aspekt, der oft zu kurz kommt, spricht der Betriebswirt und Experte für Klagenfurter Arbeitspsychologie Heiko Breitsohl an: „Eine gute Führung spielt neben Wertschätzung, Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, guter Entlohnung und Entwicklungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle für das Halten von Beschäftigten.“ Dabei sei das „eigene Vorleben“ erwünschter Verhaltensweisen durch Führungskräfte bedeutend.