Der Chipmangel legt in der Autoindustrie ganze Produktionen lahm und wirkt sich auch stark auf die Zulieferer aus. Wie viele Autos stehen denn derzeit in Deutschland nicht auslieferfähig auf den Fabrikshalden?
HANS DIETER PÖTSCH: Dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. Aber es dürften erhebliche Stückzahlen sein. Noch viel gravierender ist, was in dieser Zeit der Produktionsanpassungen und der Produktionsstillstände an Autos hätte gebaut werden können.
Gibt es dazu Schätzungen?
Dieses Delta ist im Jahr 2021 sicher groß. Das werden sehr, sehr hohe Stückzahlen sein. Man geht davon aus, dass weltweit, also alle Hersteller betrachtet, eine niedrig zweistellige Millionenzahl an Autos nicht gebaut werden kann, weil die Halbleiterversorgung der Industrie nicht gewährleistet ist.
Müssen sich die Autobauer da nicht ganz viel Asche auf ihre Häupter streuen?
Bevor wir da jetzt das Schwarze Peter-Spiel beginnen, wäre es aus meiner Sicht viel vernünftiger zu schauen, wie so eine Situation, an der sich jetzt kurzfristig ohnehin nichts ändern lässt, künftig zu vermeiden ist.
Indem man Halbleiterherstellern vielleicht nicht nur vage avisieren könnte, was man bald just in time braucht, sondern längerfristige, konkrete Vereinbarungen trifft?
Wir kommen aus einer Situation mit den Corona-Lockdowns des vergangenen Jahres, in der es sicher nicht ganz trivial war, die Stärke der Erholung einzuschätzen. Vieles war nur eingeschränkt planbar. Gleichzeitig haben die weltweiten Lockdowns die Nachfrage nach Computer- und Unterhaltungselektronik steigen lassen. Schließlich haben Corona und Produktionsausfälle bei den Produzenten von Halbleitern und Chips zu einem globalen Engpass geführt, aus dem wir nur Schritt für Schritt erst 2022 wieder herauskommen.
Welche Lehren sind denn konkret daraus zu ziehen?
Mit Sicherheit wird die Industrie mit den Zulieferern einen starken Fokus darauf legen, dass sich das nicht wiederholt. Und es wird auch die Frage gestellt werden, ob dieses Thema, das wir gerade bei den Halbleitern erleben, auch noch ganz woanders vorstellbar ist. Das muss natürlich zu Vorsorgemaßnahmen in kritischen Lieferketten führen.
Die viel größere Frage, die wie ein Generalthema über Allem steht, ist, wie wir die Kurve in ein völlig neues Industrie-Zeitalter kratzen. Wie bekommt die Branche, Volkswagen die Kurve?
Grundsätzlich sind wir in einer Transformation von so hohem Tempo, wie wir sie seit Beginn der Industrialisierung noch nie gesehen haben und die den Unternehmen völlig neue Kompetenzen abverlangt. Wenn ich an die Digitalisierung denke, ist es eine existenzielle Frage, da erfolgreich zu sein, respektive an der Spitze des Wettbewerbs zu fahren. Aber für die deutsche Automobilindustrie gibt in der internationalen Konkurrenz mit vielen ganz neuen Wettbewerbern bis hin zu großen Plattformunternehmen keine Alternative dazu.
Ist Alternativlosigkeit ein guter Ausgangspunkt?
Durch politische Entscheidungen in der EU zu den CO2-Werten in der Mobilität ist praktisch entscheiden, dass an der Elektromobilität kein Weg vorbeigeht. Die Autoindustrie hat sich darauf eingestellt. An der Umstellung zum Elektroauto hängt jetzt eine Veränderung des gesamten Wertschöpfungsmusters. Diese Fahrzeuge sind in der Produktion deutlich weniger komplex, sie sind auch weniger serviceintensiv. Nachdem es dabei um große industrielle Strukturen geht, müssen große Umwälzungen gemeistert werden. Diese Umwälzungen bedeuten auch, dass Wertschöpfung vom Zulieferbereich in Richtung der Hersteller abwandern wird. Das macht den Transformationsprozess für die Zulieferer noch anspruchsvoller.
Für Österreich spielt das eine sehr große Rolle. Kann das beschäftigungssichernd gelingen?
Wir haben ja schon viele Innovationswellen erlebt, bei denen es Befürchtungen gab, dass tausende Arbeitsplätze verloren gehen. Eigentlich ist das Gegenteil passiert und ich glaube, es gibt eine sehr gute Chance, dass nach dieser Transformationswelle in Summe die Beschäftigung in der Industrie tendenziell eher zu- als abnimmt.
Worin liegt diese Chance?
Wir sind eine hoch spezialisierte Industrie mit extremer Kompetenz, wir sind Weltmarktführer. Die Zulieferer sind oft maßgeblicher Teil dieser Führungsposition. Insofern sind die Voraussetzungen gut, den Wandel gemeinsam erfolgreich zu meistern. Aufgrund der Durchdringung des Autos mit digitalen Techniken entstehen ganz neue Geschäftsmodelle und Serviceangebote, die große Beschäftigungschancen bieten, auch gerade für Österreich, wo es einen hochkompetenten Maschinenbau gibt. Es wird in Europa allein für Batteriezellen-Fabriken großen Bedarf geben.
Wie viele Batterie-Fabriken braucht Europa. Sechs, sieben?
Nach meinem Eindruck insgesamt für die europäische Autoindustrie eher deutlich mehr. Wobei ein Engpass die Verfügbarkeit von entsprechendem Know-how ist. So schnell wird es nicht gehen, eine ganze Reihe von Fabriken zu bauen. Das wird auch 2030 nicht abgeschlossen sein. Eine ähnliche Logik ist auf den Bereich Software anzuwenden bis hin zum autonomen Fahren. Durch den Wandel wird, da bin ich sicher, eine neue und moderne technologische Infrastruktur entstehen. Nur müssen wir diese Modernisierung der industriellen Basis beherzt angehen.
Könnte sich autonomes Fahren ab einem gewissen Grad vielleicht als Irrweg, Sackgasse erweisen?
Wenn ich die Frage so verstehe, ob man sich da zurückhalten kann? Nein. Das kann es nicht sein, weil die möglichen Auswirkungen, wenn es tatsächlich funktioniert, disruptiv sind und alles radikal verändern. Ich kann die Skepsis ein wenig nachvollziehen. Aber es ist zu differenzieren zwischen der Stadt, wo die Komplexität extrem hoch ist, und anderen Bereichen wie Autobahnen oder Umgebungen zum Beispiel von Logistikzentren oder Flughäfen, wo autonomes Fahren große Vorteile bringen kann. Denken Sie nur an die aktuelle Knappheit bei Lkw-Fahrern.
Warum hält man sich beim Thema Wasserstoff zurück?
Weil die Batterie der extrem energieaufwendigen Wasserstofferzeugung überlegen ist. In der Schiff- und Luftfahrt könnte Wasserstoff dagegen eine Lösung sein. Und natürlich für die Produktion von Green Steel, bei Aluminium, Zement oder in der chemischen Industrie. Grüner Wasserstoff wird dringend benötigt, aber eben nicht in der individuellen Mobilität mit dem Pkw. Da ist die Batterie die viel bessere Lösung und auch schon vorhanden.
Green Steel wollen immer mehr Auto-Hersteller verbauen. Ist das schon ein Trend?
Das wird sich verdichten, keine Frage. Noch müssten wir Wasserstoff in Deutschland aber mit viel zu viel Kohlestrom produzieren. Da ist Österreich eine Ausnahme.
Macht Ihnen die Energiewende Sorgen?
Nein, sie ist beherrschbar. Nur wenn man mit dem Tempo weiterfährt wie bisher, geht es schief. Ein Kohleausstieg in Deutschland schon 2030 würde mir sehr gut gefallen. Einen Energieengpass darf es natürlich nicht geben.
Was wäre das Schlimmste, was die voraussichtlich neue Ampel-Regierung in Deutschland machen könnte?
Ich habe großes Zutrauen, dass wir ein anspruchsvolles, gutes Programm bekommen.
Ein Tempolimit soll es schon einmal nicht geben. Warum nicht?
Wenn wir zunehmend elektrisch und später autonom fahren, wird sich das Thema von selbst lösen. Die Richtgeschwindigkeit hat sich bewährt - auch Limits in Bereichen, wo höhere Unfallgefahr besteht. Insofern finde ich die Ergebnisse aus der Ampel-Sondierung in Deutschland vernünftig. Dem Klimaschutz hohe Priorität zu geben, das ist absolut richtig. Der wirtschaftliche Rahmen darf dabei natürlich nicht verloren gehen, auch die soziale Ausgewogenheit für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz ist elementar. Wenn ich VW erwähnen darf, wir stehen zu dem Thema Klimaschutz. Was wir brauchen, sind saubere Mechanismen, mit definierten Meilensteinen, die den Weg zum Ziel markieren, ihn überprüfbar und transparent machen, damit man gegensteuern kann, wenn es nicht so läuft.
Deshalb hat sich VW-Konzernchef Herbert Diess kürzlich so für einen deutlich höheren CO2-Preis ins Zeug gelegt?
Das steht in unserem Empfehlungspapier, das wir den möglichen Koalitionären zur Verfügung gestellt haben.
Ist der österreichische Klima-Bonus eine gute Maßnahme?
Das ist nur ein Instrument, man muss sich die ganze Landschaft vornehmen, um hier zu fördern, oder anderes in einen Nachteil zu setzen. Wir schlagen deshalb in Deutschland auch eine weitere Förderung von Hybriden vor, eine geringere als für Elektrofahrzeuge. Aber Hybride sind eine ideale Übergangslösung, solange wir kein überzeugendes Ladenetzwerk haben. Man kann auch technisch nachweisen, wie viel ein Hybrid elektrisch fährt, damit er nicht als Feigenblatt benutzt wird.
Wie lange sollte Elektro-Mobilität überhaupt noch gefördert werden?
Eine dauerhafte Förderung ist nicht wirklich erklärbar. Ich kann mir vorstellen, dass man mit einem degressiven Modell 2025 solche Förderungen auch auslaufen lässt.
So bald? Wie passt das mit dem Ziel zusammen, dass E-Autos einmal billiger sein sollen als Verbrenner? Lässt sich das ohne Förderung darstellen?
Im täglichen Unterhalt sind E-Autos für die Kunden jetzt schon interessant. Und aktuell vielfach günstiger als Autos mit Verbrennungsmotor. Diese Entwicklung wird sich verstärken. Der Weg in die Elektromobilität ist nicht aufzuhalten.
Claudia Haase