68.929 Programmierer, 29.996 Köche sowie 6.364 Schreiner und Zimmermänner: Die Liste der Fachkräfte, die in Großbritannien fehlen, ist lang. Insgesamt sind mehr als eine Million Jobs unbesetzt, wie das Statistikamt ONS am Dienstag mitteilte. Das sind so viele wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen 2001.
Während Finanzminister Rishi Sunak den Aufschwung am Arbeitsmarkt bejubelt, der wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht, droht der britischen Wirtschaft damit ausgerechnet in der Erholung von der Coronakrise ein unerwartetes Problem. Eine "akute Einstellungskrise" hat Siren Thiru von der Britischen Handelskammer ausgemacht.
Händeringend suchen zahlreiche Branchen nach neuen Leuten. Ganz oben auf der Liste stehen Lastwagenfahrer, hier fehlen mindestens 100.000 Arbeitskräfte. Das hat weitreichende Folgen auch für Verbraucherinnen und Verbraucher. Seit Wochen sind einige Waren nur schwer zu bekommen, in Supermärkten klaffen Lücken in den Regalen, bei Ikea gibt es keine Matratzen, der Milchgigant Arla musste die Lieferungen reduzieren. Doch auch im Pflegebereich sind Zehntausende Stellen unbesetzt - und das mitten in der Pandemie mit täglich noch immer rund 30.000 Neuinfektionen in Großbritannien. Millionen Menschen warten zudem auf eine Operation.
"Diese Rekrutierungsschwierigkeiten werden die wirtschaftliche Erholung wahrscheinlich dämpfen, indem sie die Fähigkeit der Unternehmen einschränken, Aufträge zu erfüllen und die Kundennachfrage zu befriedigen", sagte Experte Thiru. Jüngste Daten spiegeln dies bereits wider: Im August fiel der Einkaufsmanagerindex von IHS Markit auf ein Sechsmonatstief, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg im Juli im Vergleich zum Vormonat nur um 0,1 Prozent.
Brexit beschleunigt das Problem
Die Coronapandemie hat die Wirtschaft weltweit durcheinander gewirbelt, das Vereinigte Königreich ist beileibe nicht das einzige Land mit freien Stellen in der Logistik. Auch in Deutschland fehlen zum Beispiel Zehntausende Lastwagenfahrer, selbst in Österreich mehren sich diesbezügliche Stimmen. Doch Experten weisen darauf hin, dass in Großbritannien das Problem verschärft auftritt - wegen des Brexits. Denn während der Pandemie wanderten Hunderttausende ab. Nun kehren aber nur wenige von ihnen zurück. Das merken als erstes Branchen wie die Gastronomie, wo EU-Bürger lange die Mehrheit der Servicekräfte stellten. Hier nahm die Zahl offener Stellen allein im August um 57.600 zu, wie die BBC berichtete.
Hinzu kommt, dass die konservative Regierung seit dem Brexit eine äußerst harte Linie bei der Einwanderung fährt. Damit setzt Premierminister Boris Johnson ein Versprechen um. Die Freizügigkeit werde "ein für allemal" beendet, hatte Innenministerin Priti Patel bereits vor zwei Jahren angekündigt. Wer aus der EU zum Arbeiten nach Großbritannien kommen will, braucht nun ein Visum, das viel Geld und Aufwand kostet. Auf eigene Faust geht ohnehin kaum noch etwas, potenzielle Arbeitgeber müssen als Sponsoren auftreten.
Arbeitsvisa: Verbände fordern Ausnahmen
Das Ziel von Johnson und Patel: Britische Jobs für Briten. Doch viele Menschen sind für die Arbeiten, für die nun keine EU-Bürger zur Verfügung stehen, gar nicht ausreichend geschult - oder sie wollen die gering bezahlten Tätigkeiten nicht ausüben. Kaum vergeht eine Woche, ohne dass ein Branchenverband die Regierung auffordert, weitere Berufe auf eine Ausnahmeliste für Arbeitsvisa zu setzen.
Eine Hoffnung ruht nun auf dem Ende der staatlich unterstützten Kurzarbeit. Das sogenannte Furlough-Programm, bei dem die Regierung bis zu 80 Prozent des Lohns übernahm, läuft Ende September aus. Dann müssen gut eine Million Menschen entweder wieder in ihre alten Jobs übernommen werden oder sich eine neue Arbeit suchen. Doch was auf dem Papier nach einer einfachen Lösung aussieht, reicht in der Realität bei weitem nicht aus.
Angesichts der nachhaltigen Probleme von Corona und Brexit sei das Ende von Furlough kein Allheilmittel, sagte Experte Thiru. Die Ökonomin Yael Selfin von der Beratungsgesellschaft KPMG sagte, der Druck werde zwar nachlassen. "Aber der britische Arbeitsmarkt wird unruhig bleiben, da die Besetzung freier Stellen aufgrund von Fachkräftemangel und der geringeren Verfügbarkeit von ausländischen Arbeitskräften Zeit braucht."