Gerade hat Arbeitsminister Martin Kocher den Startschuss zu einer Arbeitsmarkt- und Arbeitslosenversicherungsreform gegeben. In einem ersten Schritt soll ein Reformdialog Ideen aus verschiedensten Richtungen diskutieren, im Laufe des nächsten Jahres sollen entsprechende Gesetze folgen. Unterdessen hat das Sora Institut im Auftrag des Momentum Instituts erhoben, wie es Arbeitslosen in Österreich ergeht.
Das Ergebnis: Das Leben in der Arbeitslosigkeit sei alles andere als ein gemütliches Dasein in der sozialen Hängematte. Obwohl der Großteil der Betroffenen auch nach vielen Monaten ohne Job noch aktiv nach Arbeit sucht, ist rund die Hälfte von Armut gefährdet, psychosomatische Erkrankungen sind häufig und die gesellschaftliche Stigmatisierung stark. Die große Mehrheit ist unfreiwillig ohne Job.
Für die Studie wurden 1215 zufällig ausgewählte Arbeitslose, auch solche, die nicht beim AMS registriert sind, sowie für den Vergleich 629 Beschäftigte befragt. Die Fragen wurden von Lukas Lehner, der an der Universität Oxford zu Arbeitslosigkeit forscht, mitgestaltet und die Ergebnisse sollen wissenschaftlich ausgewertet und veröffentlicht werden. Er selber werde für die Studie nicht bezahlt, versicherte Lehner.
Nur jeder achte Betroffene ist freiwillig arbeitslos, in der Regel gelte das für gut gebildete Menschen, die aus besser bezahlten Jobs kommen, sagte Daniel Schönherr von Sora bei der Präsentation der Ergebnisse am Donnerstag. 83 Prozent der Befragten haben in den letzten vier Wochen zumindest eine Bewerbung verschickt, auch Langzeitarbeitslose bemühten sich noch um einen Job. Allerdings gebe es wenig Echo - Anfangs gebe es im Schnitt noch bei sechs Bewerbungen eine Einladung zu einem Gespräch, in der Langzeitarbeitslosigkeit nur mehr alle 16 Bewerbungen.
Wenige Gruppen besonders stark betroffen
Aus Sicht Schönherrs ist Arbeitslosigkeit keineswegs "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen, denn der Großteil betreffe wenige Gruppen. 27 Prozent sind Arbeiterinnen oder Arbeiter ohne Matura in der Produktion, 44 Prozent waren Teil der "neuen Serviceklasse", also im Dienstleistungssektor von Gastronomie und Tourismus über Reinigung bis zu Zustellern tätig. Gerade dass sich die Arbeitslosigkeit unter jenen Menschen verfestige, die weniger verdienen, verschärfe die Lage in der Arbeitslosigkeit. Denn dadurch ist auch das Arbeitslosengeld - 55 Prozent des letzten Nettoverdiensts - entsprechend niedrig.
Drei von vier Arbeitslosen müssen auf zusätzliche Geldquellen zurückgreifen, von Ersparnissen bis zu neuen Schulden. Zugleich sagt die Hälfte, sie könne aus finanziellen Gründen keine Freunde mehr zum Essen einladen, jeder fünfte kann die Wohnung nicht umfassend heizen.
Zu den finanziellen Einschränkungen kommen noch psychische Probleme, sagte Schönherr. 60 Prozent der Arbeitslosen - und 70 Prozent der Langzeitarbeitslosen - fühle sich nicht mehr als wertvoller Teil der Gesellschaft. 38 Prozent leiden unter depressiven Gedanken, 31 Prozent unter Nervosität und Ängstlichkeit, 28 Prozent unter unkontrollierbaren Sorgen und 27 Prozent unter Einschlafproblemen. Bis zu 40 Prozent wissen nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, 12 Prozent berichten, dass sie von ihren Freunden nicht mehr so geschätzt werden.
"Falsches Bild der Arbeitslosigkeit"
Arbeitslose werden auch von der Gesellschaft stark diskriminiert, das zeigte der Vergleich mit den parallel zu den Arbeitslosen befragten berufstätigen Menschen. Während dort die Meinung vorherrschte, dass nur zwei Drittel der Arbeitslosen überhaupt einen Job suchen, seien es in Wahrheit fast alle, sagte Lehner. Auch glaubten die Berufstätigen, dass ein Viertel der Arbeitslosen mehr Geld bekomme als während der Arbeit - in Wahrheit gelte dies praktisch für niemanden. Schwarzarbeit von Arbeitslosen, so das Vorurteil, gelte als weit verbreitet, während die besten verfügbaren Daten darauf verweisen, dass weniger als 10 Prozent der Arbeitslosen schwarzarbeiten.
"Die öffentlichen Äußerungen bringen ein falsches Bild der Arbeitslosigkeit, dieses entspricht nicht den Daten und dem Stand der Wissenschaft", so Lehner. In die gleiche Kerbe schlägt Schönherr: "Mir fällt in Österreich keine andere gesellschaftliche Gruppe ein, über die man so unkritisiert Vorurteile äußern darf". Während in den 1960er-Jahren noch die anerkannte Meinung war, dass die wirtschaftlichen Strukturen zu Arbeitslosigkeit führen, gehe die öffentlich und in den Medien geäußerte Erzählung nun dahin, dass Arbeitslose selber schuld seien.
Psychischer Druck sehr hoch
In Summe sei der psychische Druck auf Arbeitslose in Österreich bereits sehr hoch, es sei "kaum noch möglich, ihn zu verstärken", ist das Fazit Lehners. Man dürfe auch nicht übersehen, dass oft die Qualifikationen und die angebotenen Jobs nicht zusammenpassen - noch so viel Druck könne aber nicht zu besserer Qualifikation führen.
Für Barbara Blaha, Leiterin des - nach eigenen Angaben sozial-ökologischen - Momentum Instituts, leiten sich aus dieser Studie klare Positionen ab. Vollzeit-Einkommen sollten zumindest 1800 Euro betragen, damit im Fall des Falles auch das Arbeitslosengeld zum Leben reicht. Die Nettoersatzrate sollte von derzeit 55 auf 70 Prozent steigen. Auch sollten die Arbeitslosen auf der Jobsuche deutlich stärker unterstützt werden - Blaha wünscht sich mehr Geld für das AMS, insbesondere um Menschen sofort nach Beginn der Arbeitslosigkeit besser unterstützen zu können, denn mit der Dauer der Arbeitslosigkeit steige die Stigmatisierung der Betroffenen und werde es immer schwerer, ein Jobangebot zu bekommen. Ein degressives Modell für das Arbeitslosengeld lehne sie ab, weil davon auszugehen sei, dass nach wenigen Monaten die Nettoersatzrate unter 55 Prozent fallen würde. Auch ein Wegfall der Zuverdienstmöglichkeit ist für Blaha "nicht vorstellbar".
Zu den Hauptgründen, warum es derzeit gleichzeitig relativ viele offene Stellen und Arbeitslose gibt, gehört die rasche Erholung. Es werde einige Monate brauchen bis Arbeitslose und neue Jobs zueinander finden, sagt Lehner. Durch die Coronapandemie habe es auch deutliche Strukturänderungen gegeben, Menschen wechselten aus Gastronomie und Tourismus in andere, besser bezahlte und sicherere Branchen. Aber die Knappheit beim Arbeitsangebot beinhalte auch eine Chance, sagt Lehner. Denn das würde Firmen dazu bringen, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die US-Notenbank versuche teilweise bewusst, gewisse Knappheiten beim Arbeitsangebot herzustellen, um das Lohnwachstum anzukurbeln.