Den Schockmoment erlebte Martin Kocher kurz nach der Pressekonferenz. Unweit des Wiener Rathauses kollidierte ein Lkw mit dem Dienst-BMW des Arbeitsministers, ein Rettungseinsatz war die Folge. Schlussendlich ging die brenzlige Situation glimpflich aus. Kochers Generalsekretärin musste mit leichten Verletzungen ins Krankenhaus, der Minister selbst blieb unverletzt.
Die Stunden davor legte es der Minister dafür umso harmloser an. Zunächst einmal präsentierte Martin Kocher aktuelle Arbeitsmarktzahlen – die verhältnismäßig gut aussehen. Nach den krisenbedingten Negativrekorden beruhigt sich die Situation weitestgehend, Ende August waren nur mehr knapp 7000 Menschen mehr arbeitslos vorgemerkt als im Vorkrisenjahr 2019. Auch die Anmeldungen für die mit Julibeginn adaptierte Form der Kurzarbeit liegen weiter unter der Grenze von 50.000 Personen. Gleichzeitig gibt es in Österreich ein Rekordangebot an offenen Stellen: Zurzeit sind rund 114.000 Jobs gemeldet.
Diese will der Arbeitsminister künftig rascher und in größerer Anzahl besetzt sehen. Oder, wie es Martin Kocher selbst formuliert: „Wir wollen mehr Menschen in Beschäftigung bringen, Vermittlung beschleunigen und eine bessere Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit“. Um das zu erreichen, startet ein „Reformdialog zur Arbeitslosenversicherung Neu“. Bis Dezember sollen Zwischenergebnisse vorliegen, mit „erstem Quartal 2022“ werde dem Parlament „idealerweise“ ein Reformpaket vorgelegt“, sagt Kocher.
Was harmlos anmutet und von Kocher betont sachlich vorgetragen wird, birgt inhaltlichen Sprengstoff. Denn debattiert wird ab sofort über eine mögliche Abstufung des Arbeitslosengeldes („degressives Modell“) und eine etwaige Verschärfung von Zumutbarkeitsbestimmungen oder Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose. Themen, denen man lange ein „Tabu“ voranstellte.
Zustimmung und viele Forderungen
Wie schwierig die Umsetzung einzelner Maßnahmen werden dürfte, zeigte sich bereits unmittelbar nach Kochers Ankündigung. Zwar gab es fast durch die Bank viel Zustimmung für den geplanten Reformdialog unter Einbeziehung von Sozialpartnern, Parlamentsparteien, Wissenschaftern und Experten sowie Arbeitslosen. Die damit einhergehenden und bereits adressierten Forderungen legen aber die unterschiedlichen Erwartungshaltungen offen – auch innerhalb der Koalition.
So schloss etwa Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) Verschärfungen beim Arbeitslosengeld aus. Auch ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian betonte umgehend: „Kürzungen wird es mit uns sicher keine geben, denn Arbeitslose müssen vor Armut geschützt werden.“ Man wolle gerne über eine Reform diskutieren, dränge jedoch abermals auf eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70 Prozent des letzten Nettoeinkommens (derzeit 55 Prozent). Das fordert auch die SPÖ, Sozialsprecher Josef Muchitsch will zudem eine Pflegeoffensive sowie mehr Engagement gegen Langzeitarbeitslosigkeit durchsetzen und warnt davor, Zuverdienstmöglichkeiten zu streichen.
Die Arbeitgebervertreter aus Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung sprechen sich – vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels – wiederum für positive Beschäftigungsanreize aus. Der ÖVP-Wirtschaftsbund hatte bereits vor wenigen Tagen den Ansatz von AMS-Chef Johannes Kopf unterstützt, der sich dafür ausspricht, die Zuverdienstgrenze für Arbeitslose (derzeit sind 475,86 Euro erlaubt) abzuschaffen oder zumindest massiv einzuschränken.