US-Präsident Joe Biden sagte jüngst, dass Facebook ob der vielen dort kursierenden Falschmeldungen „Menschen töten“ würde. Wie verfolgen Sie die Rolle der Social-Media-Riesen in Zeiten der Pandemie?
Skeptisch, aber nicht übernervös. Das hat einerseits damit zu tun, dass Social Media auch eine Demokratisierung der gesellschaftlichen Diskussion ermöglicht haben. Vor 30 Jahren haben klassische Medien die öffentliche Diskussion für Bürgerinnen und Bürger erledigt. Auf den Stammtischen wurde damals möglicherweise heftig und ordinär diskutiert, in den Medien aber kam das sachlicher und sauberer rüber. Jetzt haben wir den Stammtisch digitalisiert. In diesem Rahmen kommt es fast selbstverständlich auch zu Fehlinformationen, aber auch Misinterpretationen von Informationen. Was mich besorgt: Dass wir als Gesellschaft und insbesondere die Politik kein Rezept dagegen hat. Wir haben keine Antwort darauf, außer die sozialen Medien verantwortlich zu machen und zu regulieren. Das ist aber ungefähr so erfolgreich, wie den Menschen in einer Demokratie zu verbieten, am Stammtisch deftigere Meinung zu sagen. Das alleine reicht nicht.
Aus Ihrer Sicht tut Facebook also genug, um Misinformation zu verhindern? Der Konzern ließ jüngst immerhin wissen, dass man 18 Millionen mit Fehlinformationen versehene Beiträge entfernt hätte.
Das mag faktisch richtig sein. Aber selbst wenn man 18 Millionen Beiträge löscht, gibt es noch viele Millionen, die man nicht erwischt. Die wirkliche Frage ist, ob Herausfiltern überhaupt die richtige Antwort ist. Stellen Sie sich vor, Sie würden bei jedem Stammtisch einen Zensor dazustellen: das wäre nicht nur extrem schwierig, sondern faktisch unmöglich. Denn in der menschlichen Kommunikation gibt es nicht nur klare Falschinformationen, sondern auch unheimlich viele Graubereiche wie Information verstanden wird. Ich glaube ja eher, dass wir das Diskutieren verlernt haben. Wir schreien uns oft nur noch an.
Wie können wir das Diskutieren in Zeiten der Digitalisierung wieder erlernen?
Indem wir deutlich mehr Zeit aufwenden, uns anderen Meinungen zu stellen. Weil wir nur so auch Veränderung erreichen. Bleibe ich in meiner Filterblase – ob aktuell Impfverweigerer oder Impfbefürworter– komme ich mit anderen nicht ins Gespräch. Ich halte es für falsch, dass wir diese Polarisierung eher befördern. Wir sehen in den USA, wohin das führt. Aber leider habe ich das Gefühl, die politische Klasse in Österreich hat das noch nicht erkannt.
Facebook-Boss Mark Zuckerberg sagte in einem Interview, dass es auch Städten nicht gelingen würde, Kriminalität komplett abzuschaffen. Ist der Vergleich stimmig?
Bis zu einem gewissen Grad schon. Aber es wäre falsch, die sozialen Medien als einzige Quelle des Übels zu erkennen, genauso wie sie gänzlich aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Die digitalen sozialen Medien verstärken gerade das, was unsere Gesellschaft auseinandertreibt. Vor der Pandemie war uns das noch relativ egal, wenn jemand an Verschwörungstheorien glaubte. Wenn sich aber jetzt mein Nachbar nicht impft und Herden-Immunität dadurch nicht erreicht wird, habe ich auch einen konkreten Nachteil. Mir wird die Gefahr der sozialen Medien als "Lautverstärker" bewusst. Und wenn man Lautverstärker ist, muss man sich schon überlegen, welche Laute man verstärkt. Denn nicht jede Botschaft wird gleich verstärkt. Soziale Medien sind nicht neutrale Plattformen.
Eine Studie des Center for Countering Digital Hate (CCDH) fand heraus, dass in den USA die Mehrheit der Falschinformation in Sachen Covid-19-Impfung von gerade einmal zwölf Menschen kommt, die über mehrere Plattformen verteilt 59 Millionen Menschen erreichen. Warum hat ein „Dirty dozen“ so viel Macht auf diesen Kanälen?
Zum einen, weil sie ein Gefühl, das viele haben, formulieren und auf den Punkt bringen. In der Demokratie nennen wir das Populismus. Zweitens sind die Algorithmen von Facebook, und nicht nur von Facebook, so gebaut, dass Beiträge, die besonders oft und intensiv geteilt werden, noch mehr Leuten vorgeschlagen werden. Aber klar ist auch: Ohne die vielen Verschwörungstheoretiker in unserer Gesellschaft gäbe es auch keinen fruchtbaren Boden dafür. Wir sind also mitschuld.
Die Geschäfte der großen IT-Konzerne laufen selbst in Krisenzeiten brillant. Alphabet, Microsoft und Apple schrieben jüngst 57 Milliarden US-Dollar Gewinn. In drei Monaten. Was sagen Ihnen derlei Zahlen?
Dass hier jemand Monopolrenditen einfährt. Und das ist immer hochproblematisch. Hinzu kommt: Google, Facebook und auch Apple haben so viele Daten gesammelt, dass sie aus den Daten heraus eine unglaubliche Innovationskraft entwickelt haben, die ihnen wieder erlaubt, neue Produkte zu entwickeln. Da können Mitbewerber nicht mithalten, weil ihnen der Zugang zu den Daten fehlt. Der Markt wird konzentriert, die Menschen müssen mehr zahlen als notwendig ist und unsere Innovationskraft droht zu erlahmen.
Bei Apple könnte man einwenden, dass es schon einen intakten Smartphone-Markt mit unterschiedlichsten Anbietern gibt.
50 Prozent des weltweiten Umsatzes am Smartphone-Markt erwirtschaftet Apple. Das heißt, wir sehen auch dort eine Marktkonzentration. Und über den App Store beherrscht Apple nicht nur das Smartphone selbst, sondern auch, was man damit tun kann.
Ist es denkbar, dass man die Macht der Konzerne bricht, indem man sie aufspaltet? Im US-Kongress werden vermehrt derlei Pläne gewälzt.
Zunächst sind zuletzt die Kartellstrafen in Europa deutlich höher geworden. Ebenso in China. Aber mit Strafen alleine ist es nicht getan. Diese verändern nicht die problematische Dynamik, die dahinter liegt. Deswegen bringt es auch nichts, Facebook oder Amazon zu zerschlagen. Wenn man der Hydra den Kopf abschlägt, wächst ein anderer nach. Der erlebten wir auch bei AT&T. Die Amerikaner haben den Konzern in den 1980er-Jahren zerschlagen und heute ist AT&T größer denn je. Man muss an die Wurzeln des Übels.
Was muss man denn im konkreten Fall ändern?
Wir brauchen eine breit gestreute Innovationsdividende, indem wir die nicht-personenbezogenen Datenberge, die die US-Digitalriesen gesammelt haben, europäischen Unternehmen, vor allem auch Startups und Mittelständlern, öffnen. Ein typisches Waymo-Auto, ein selbstfahrendes Fahrzeug aus Googles Mutterkonzern, sammelt in einer Sekunde eine Milliarde Datenpunkte. Und das ist bloß ein Bruchteil dessen, was Google an synthetischen Fahrdaten generiert. Diese unglaublichen Datenmengen bringen dramatisch bessere Ergebnisse. Ende letzten Jahres ist ein durchschnittliches Waymo-Auto völlig autonom im Schnitt 50.000 Kilometer gefahren, bevor ein Mensch eingreifen musste. Ein autonomer BMW oder Daimler fuhr 200 Kilometer. Die Daten machen den Unterschied. Wir müssen den Zugang zu ihnen öffnen, damit Europas Unternehmen innovativ sein können.
In Ihrem Buch „Maschtmaschinen“ fordern Sie, dass man in Europa die Informationsmächtigen verpflichten müsse, ihre Informationsschätze mit anderen zu teilen. Warum nur in Europa?
Irgendwo muss man anfangen. Und ich habe den Eindruck, dass wir in Europa dafür bereit sind. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Februar 2020, es sei Zeit, dass man den Zugang zu den Daten der digitalen Superstars ermöglicht. Damit Europa nicht länger wirtschaftlich zwischen den digitalen Riesen aus Amerika und jenen aus China aufgerieben wird.
Welche Datensätze sollen zugänglich gemacht werden?
Alle jene Daten, die nicht personenbezogen sind. Ganz viele Daten, die gesammelt werden, sind von vorne herein gar nicht personenbezogen – und können damit zugänglich gemacht werden, ohne, dass der Datenschutz tangiert wird. Ein einzelnes Flugzeug-Triebwerk eines Airbus A380 etwa sammelt bei einem Flug vier Milliarden Datenpunkte.
Welche Unternehmen müssen derlei Datensätze zugänglich machen? Alle?
Die Klein- und Kleinstbetriebe sollen damit nicht belastet werden. Aber ich würde versuchen, eine Regelung möglichst flächendeckend auszugestalten. Die Umsatzgrenze könnte bei 10 oder 25 Millionen Euro liegen. Ab dieser Größe haben Mittelständler meist auch eine IT-Abteilung, die das umsetzen kann.
Wie würden Sie den Zugang zu den Daten gestalten?
Dezentral - also so, dass es nicht einen zentralen, großen Daten-Silo braucht.
Jedes Unternehmen schafft also eine eigene Schnittstelle?
So wie auch jedes Unternehmen eine eigene Website hat. Es müssen auch nicht alle Daten zugänglich gemacht werden, es reicht ein zufällig ausgewählter Bruchteil, ein sogenanntes Sample, also vielleicht 0,5 oder 1 Prozent. Das macht den Übertragungsaufwand überschaubar, aber hilft gleichzeitig anderen schon sehr.
Und rechtlich umrahmt soll das dann von einer neuen „Datennutzgrundverordnung“ werden?
So ist es.
Die „Datenschutzgrundverordnung“ (DSGVO) sehen Sie wiederum sehr skeptisch. Warum eigentlich?
Weil die DSGVO ihr Ziel, die Menschen vor Missbrauch ihrer personenbezogenen Daten zu schützen, nicht erreicht hat. Im Gegenteil: in der Praxis hat die DSGVO dazu geführt, dass wir ganz oft „Ok“ klicken müssen – und das auch tun. Datenschutz kann in dieser komplexen digitalen Welt nicht dadurch erreicht werden, dass die gesamte Verantwortung auf den Schultern der Nutzerinnen und Nutzern lastet. Das ist absurd.
Was gibt Ihnen eigentlich Anlass, daran zu glauben, dass Daten tatsächlich bald flächendeckend geteilt werden?
Als ich diesen Gedanken vor ein paar Jahren formulierte, wurde ich für verrückt erklärt. Heute steht es in deutschen Parteiprogrammen. 2019 hat sich die SPD für das Datenteilen entschieden, jetzt findet es sich auch im Programm der CDU. Die Datenstrategie der Deutschen Bundesregierung sieht vor, das Zugänglichmachen von Daten auf gesetzlicher Grundlage zu untersuchen. Und es wurde bereits ein Open-Data-Gesetz beschlossen, das viele staatliche oder teilstaatliche Unternehmen im Mobilitätsbereich zwingt, ihre Daten zu teilen. Und es ist nicht bloß Deutschland. Auch in Holland wird darüber diskutiert, oder etwa in der Schweiz.
Kommt es wirklich zu einer Machtverschiebung, wenn Daten fortan geteilt werden? Sind die Marktführer, auch aufgrund des enormen Kapitals in der Hinterhand, nicht jetzt schon viel zu weit entfernt von etwaiger Konkurrenz?
Google hat zwei Erfolgsfaktoren. Viele Daten und die Fähigkeit, diese Daten zu nutzen. In vielen europäischen Unternehmen fehlen beide Voraussetzungen. Sind Daten besser verfügbar, ist das erste Problem gelöst. Und dann gibt es auch keine Ausrede mehr für europäische Mittelständler, sich nicht mit dem zweiten Erfolgsfaktor, der Digitalisierung, auseinanderzusetzen. Es wäre schlecht, würde Google die Welt übernehmen. Nicht bloß für uns, sondern auch für Google selbst. Jeder braucht ein Gegenüber, und damit eine Möglichkeit besser zu werden.