„Immer knapp vor Weihnachten“, so erzählte es jüngst ein Bekannter, der seit mehr als 30 Jahren beim Grazer Anlagenbauer Andritz AG arbeitet, hat sich in den Hallen des steirischen Leitbetriebs eine Begebenheit ritualisiert. Dann nämlich schreitet Andritz-Chef Wolfgang Leitner die Produktion ab, wünscht den Mitarbeitern per Handschlag ein schönes Weihnachtsfest und blickt anschließend am Rednerpult auf Anstehendes. Dabei gehe es um volkswirtschaftliche Umwälzungen ebenso wie um konkrete betriebliche Herausforderungen. Und „der Chef“ liege mit seinen Prognosen „sehr häufig richtig“, berichtete der Bekannte durchwegs ehrfürchtig.
Heuer wird Wolfgang Leitner wohl wieder ausrücken. Coronabedingt möglicherweise mit Verzicht auf Handschläge, aber ziemlich sicher ausgestattet mit der ihm eigenen Fähigkeit, Trends frühzeitig zu erkennen. Gleichzeitig wird es der letzte vorweihnachtliche Ausblick von Leitner als Andritz-CEO sein. Im April des nächsten Jahres legt er sein Amt zurück. Nach 34 Jahren im Vorstand, 27 Jahre davon stand er an dessen Spitze. Eine Zäsur, zweifelsohne. Mit Leitner verlässt einer der prägendsten und erfolgreichsten Manager der jüngeren steirischen Wirtschaftsgeschichte das größte Unternehmen des Bundeslandes.
Eine „unglaubliche Professionalität“ attestiert dem heute 68-Jährigen etwa Thomas Krautzer, Historiker und langjähriger Geschäftsführer der Industriellenvereinigung Steiermark. Leitner würde „wenig dem Zufall überlassen“, habe „hohe strategische Kompetenz“. Es sei ihm auch deswegen gelungen, im Grazer Traditionsbetrieb – gegründet wurde die Maschinenfabrik Andritz im Jahr 1852 vom ungarischen Eisenwarenhändler Josef Körösi – vorhandene Schlagkraft „zu erkennen und zu erwecken“.
Die eigene Vita spielte dabei wohl eine entscheidende Rolle. Schon bevor er in dessen Führungsriege aufstieg, kannte Leitner das Unternehmen sehr gut. Vater Karl, ein Schlosser, arbeitete dort 30 Jahre lang, als McKinsey-Berater hatte der Sohn mit dem Mitte der 1980er-Jahre wirtschaftlich schwer strauchelnden Unternehmen früh beruflich zu tun. Heute ist das Unternehmen ein von Graz aus geführter Weltkonzern, der in Österreich mit 3300 Mitarbeitern ziemlich genau so viele Menschen beschäftigt wie in China. In Summe weist die Andritz AG einen Personalstand von 27.000 Mitarbeitern aus, das Produktportfolio ist divers und reicht von der Fertigung elektromechanischer Komponenten für Wasserkraftwerke bis zur Produktion von Anlagen für die Zellstoffproduktion. In vielen Segmenten ist man Weltmarktführer.
„Die letzte Ausfahrt, bevor ich 70 werde“
Coolness, die manchmal auch in betonte Kühle abgleitet, wird dem scheidenden Top-Manager ebenfalls attestiert. Auch im Umgang mit dem Unternehmen mitunter kritisch eingestellten Umweltschutzorganisationen. Leitner gilt als Führungskraft, die fordert. Der jene Professionalität, die er an den Tag legt, auch von anderen sehen will. „Stete Klarheit, die in Form von Härte auftreten kann“, empfindet ein Beobachter die Art der Kommunikation. Öffentlich tritt Leitner zurückhaltend auf. Interviews gibt er selten, bei abendlichen Netzwerktreffen sieht man ihn kaum. Auch politisches Lobbying zählt nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen des studierten Chemikers. Wenngleich er sich schon immer wieder mal mit „Persönlichkeiten“ trifft – „aber halt persönlich“, vernimmt man. Im Umgang mit Außenstehenden ist Leitner höflich, interessiert, aber reserviert.
Den nunmehrigen Abschied nennt Leitner „die letzte Ausfahrt, bevor ich 70 werde“. Wobei es eher ein sanfteres Abbiegen ist. Denn Leitner ist nicht nur operativer Lenker, ihm gehören als „nicht ganz kleiner Aktionär“ (Zitat Wolfgang Leitner) über zwei Stiftungen auch knapp ein Drittel der Anteile des börsennotierten Unternehmens. Zudem wird der Langzeit-Chef schon bald in den Aufsichtsrat wechseln. Vorerst, eine rechtliche Notwendigkeit, in die Rolle eines „normalen“ Mitglieds.
Leitners Nachfolger ist bereits fixiert. Als Konzernchef folgt der 57-jährige Joachim Schönbeck, selbst seit 2014 Teil des Andritz-Vorstands. Was konsequent ist. Fragezeichen oder gar Spekulationen rund um die Nachfolge hätten nicht zum Führungsstil Wolfgang Leitners gepasst.