Wie beurteilen Sie die Entscheidungen der Europäischen Zentralbank, insbesondere die kürzliche Neujustierung bei den Inflationszielen?
Man wollte sich mehr Flexibilität erkaufen. Man wollte davon wegkommen, dass man zu rasch von den Märkten unter Druck gerät und die Geldpolitik ändern müsste, nur weil die Inflationsrate länger über der Zwei-Prozent-Marke ist. Denn das wird der Fall sein in den nächsten Monaten, mindestens bis Jahresende. Deshalb hat man sich eiligst bemüht - auch wenn diese Neujustierung nicht unmittelbar notwendig wäre. Das neue symetrische Ziel lässt 1,5 Prozent genauso zu wie 2,5 Prozent. Was EZB-Chefin Christine Lagarde aber unter dem Stichwort Flexibilität weiterhin offen lässt, ab welchem Niveau und ab welcher Dauer beim Überschreiten der Bandbreite man aktiv werden will.
Sie waren immer sehr kritisch gegenüber der ultralockeren Geldpolitik. Ist Ihre Einschätzung aufrecht?
Bei den bislang unorthodoxen Maßnahmen wie etwa dem Anleihenkaufprogramm PEPP wäre es falsch, das länger zu praktizieren als wir Krisenerscheinungen haben. Spannend ist, was ab 2023 passiert. Dann wird es keine Rechtfertigung mehr für Notprogramme geben. Auch nicht mehr für Negativzinsen.
Wie lange werden wir noch hohe Inflationsraten sehen?
In der zweiten Jahrehälfte werden wir ziemliche Preissteigerungen haben. Weil das Vorjahr sehr große Preissenkungen mit sich gebracht hat. Um den Jahreswechsel 2021/22 herum sollte sich dann schon zeigen, ob die Inflationsraten wieder deutlich zurückgehen. Aber wir werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren sicher nicht mehr so tiefe Inflationsraten haben wie in früheren Jahren, weil es viele strukturelle Änderungen geben wird. Im Schnitt könnte sie 2,5 Prozent betragen.
Heißt das, es gibt eine Inflationsgefahr?
Nein, das bedeutet das nicht. Ich sehe keine Gefahr einer Hyperinflation in Größenordnungen von dauerhaft vier, fünf, sechs Prozent. Dafür gibt es derzeit keine Indizien. Nur zur Erinnerung: Die EZB hatte bisher immer Deflationsängste fast vorwandsmäßig vorgeschoben für ihre extrem lockere Geldpolitik, die im Wesentlichen eine Unterstützung der Fiskalpolitik der Staaten ist, damit die sich günstig verschulden können. Denn eine Versorgung der Wirtschaft mit Geld und die Performance der Wirtschaft ist nicht davon abhängig, ob die Inflation bei 1,5 oder 2,5 Prozent liegt. Diesen Beleg kann die EZB nicht antreten. Denn das ist einfach keine entscheidende Frage für das Wirtschaftswachstum.
Für Lohnverhandlungen ist die Inflation die entscheidende Frage.
Für reale Einkommensverbesserungen sind hohe Inflationsraten natürlich eine größere Hürde. Und für den Sparer sind die Nullzinsen und die Inflation nichts anderes als eine Vermögenssteuer. Ersparnisse in den Wirtschaftskreislauf zu bringen, ist die Motivation dahinter.
Könnte statt des gewünschten Effekts ein anderer eintreten?
Ja, viele Menschen sparen noch mehr, um das auszugleichen. Das hat man schon bisher beobachten können. Wichtig ist jetzt, gute Geldanlage-Instrumente zu wählen. Wobei die boomenden Aktien- und Immobilienmärkte natürlich auch eine Folge dieser ultraexpansiven Geldpolitik sind. Und die Nebenwirkung der Negativzinsen ist, dass die Staaten keine Motivation haben, ihre Budgetsanierungen voranzutreiben. Für viele Staaten ist Schulden machen derzeit sogar ein Geschäft.
Wird voraussichtlich der Umbau unserer Gesellschaft so laufen? Warum muss das alles immer von der öffentlichen Hand finanziert werden? Das ginge auch über Risikokapital. Mir sind die Plände der Europäischen Kommission zu wenig marktorientiert. Vieles aus dem neuen Programm "Fit for 55" könnte man sehr marktwirtschaftlich finanzieren.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Für die CO2-Emissionen, die Gebäudeheizungen und der Verkehr verursachen, soll ein eigener Zertifikatehandel geschaffen werden, statt das in das bestehende System zu integrieren. Ich befürchte, dass die Emissionsrechte dort viel großzügiger - vielleicht aus Preisüberlegungen oder sozialen Gründen - anders verteilt werden und sich dann nicht ein CO2-Preis ergibt, der tatsächlich Lenkungseffekte hat. Man muss Angebot und Nachfrage durch Preisincentives steuern, da sind Zertifikate sicher besser als eine mögliche Abzocke durch CO2-Steuern. Die kann man immer weiter erhöhen. Wenn ich Zertifikate vergebe, dann bestimme ich konkret, wie viel CO2 emittiert werden darf. Damit kann ich die Menge reduzieren, es werden nicht die Preise ihrer selbst willen erhöht. Da könnte man ein bissl mehr den Markt spielen lassen, der funktioniert ja, wie man bei den steigenden Preisen im Industrie-Zertifikatehandel sieht.
Claudia Haase