Hat sich Ihr Blick auf das Thema Arbeit, auch Ihre Arbeit durch den Wechsel vom Institut für Höhere Studien ins Ministeramt eigentlich gewaltig verändert?
MARTIN KOCHER: Gewaltig nicht. Natürlich ist die Wissenschaft anders als die Politik. Die Kontroversen sind anders, die Art und Weise, wie sie ausgetragen werden. Man muss sich an all das gewöhnen, aber ich war davor schon relativ nahe dran, in beratender Funktion und als Fiskalratspräsident. Insofern bin ich in den ersten Wochen nicht völlig übermannt worden.
Was war für Sie die größte positive Überraschung?
Wie wohlwollend ich aufgenommen wurde, das ist nicht selbstverständlich als Wissenschaftler, der von außen kommt. Ich werde sogar oft auf der Straße angesprochen. Es freut mich, im Alltag so viel Unterstützung zu bekommen.
Es macht von außen den Eindruck, dass Sie der Regierungskoalition mit Ihrer Sachlichkeit sehr guttun. Klimaschutzministerin Gewessler bedankte sich gestern sehr ausdrücklich bei Ihnen. Deckt sich dieser Eindruck auch mit Ihren persönlichen Erfahrungen?
Danke für diese Einschätzung. Klarerweise kann man als einzelner Minister nicht alles verändern. Ehrlich gesagt, habe ich auch Glück gehabt mit dem Zeitpunkt meines Einstiegs. Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich in den vergangenen drei Monaten deutlich entspannt und damit etwas Spielraum für weitere Maßnahmen geschaffen. Das hängt einfach stark von der Pandemieentwicklung ab. So offen muss man sein.
Die Aktion „Sprungbrett“ für Langzeitarbeitslose war erst nur angekündigt worden, aber der Pool war noch ohne Wasser. Jetzt ist er mit vorerst 300 Millionen Euro gefüllt. Wo fließen die hin?
Die Aktion ist ein großer Teil des Comebackplans, befüllt wird der Pool mit EU-Geld aus dem Aufbau- und Resilienzfonds. Es gibt damit erstmals ein Gesamtkonzept, das aus mehreren Maßnahmen und Unterstützung besteht bis hin zum Ausbau von bestehenden öffentlich finanzierten gemeinnützigen Beschäftigungen. Durch „Sprungbrett“ wird es mehr individuelle Beratung und Betreuung geben, um die richtigen Vermittlungsbemühungen zu setzen. Dann gibt es Trainings. Der dritte Schritt sieht Lohnzuschüsse von durchschnittlich 50 Prozent oder Unterstützungen für Arbeitskräfteüberlassungen vor.
„Sprungbrett“ soll 50.000 Langzeitarbeitslose bis Ende 2022 wieder ins Arbeitsleben befördern. Was ist mit den anderen 100.000, die auch zu der Gruppe gehören? Gelten die als unvermittelbar?
Diese Logik trifft auf den Arbeitsmarkt so nicht zu. Es gibt jedes Jahr immer viele Langzeitarbeitslose, die wieder einen Arbeitsplatz finden, es kommen dafür auch neue dazu. Uns geht es darum, diesen zu hohen Grundstock an Langzeitarbeitslosen zu senken. Das heißt nicht, dass man das auf Null bringt, es heißt, immer möglichst vielen Menschen aus dieser oft völlig unverschuldeten schwierigen Lage herauszuhelfen. Zudem gibt es zahlreiche weitere Programme, die auch alle weiterlaufen oder sogar weiter ausgebaut werden.
Sprechen wir nicht in Zahlen oder Programmen: Was ist denn aus Ihrer Sicht als Verhaltensökonom das Wichtigste, um Langzeitarbeitslosigkeit zu brechen?
Gute Begleitung ist wesentlich. Es geht nicht nur um den Arbeitsplatz, sondern um Vieles darum herum, Unterstützung, richtige Vorbereitung, dass man flexibel ist in den Programmen, weil es so unterschiedliche Gründe für Langzeitarbeitslosigkeit gibt. Man muss individualisiert arbeiten können. Das Ziel ist nur über individuelle Lösungen zu erreichen.
Hat das AMS Aufholbedarf? Und hat es dafür die Kapazitäten?
Aufholbedarf sehe ich hier nicht. Es ist aber eine sehr große Herausforderung. Die Hoffnung ist, jene Mitarbeiter dafür frei zu bekommen, die bis jetzt für die Kurzarbeitsabrechnungen und die akute Pandemiebewältigung im Einsatz sind.
Das AMS ist nicht die einzige Institution, die diese Begleitung leisten kann und soll. Müssten nicht vor allem Unternehmen viel mehr beitragen als bisher?
Wir wollen mit den Förderungen die Partner in der Wirtschaft überzeugen. Es ist wichtig, dass auch die Betriebe im Aufschwung Verantwortung übernehmen.
Muss man Langzeitarbeitslose speziell motivieren?
Ich glaube, viele sind sehr motiviert und wollen unbedingt wieder arbeiten. Aber gerade bei den Älteren gibt es viele Fälle mit sehr vielen Bewerbungen und vielen Enttäuschungen.
Braucht es mehr Druck, wie das die Wirtschaftskammer immer wieder fordert?
Ein gewisser Druck ergibt sich daraus, dass beim Pendeln zumutbare Entfernungen schon vor einiger Zeit größer geworden sind, dafür gibt es mehr Mobilitätsbeihilfen, da wurden die Einkommensgrenzen erhöht. Oft entspinnen sich Diskussionen an spezifischen Dingen, wie fehlenden Köchen im Tourismus. Aber für Oberösterreich, die Industrie, müssen wir es schaffen, die überregionale Vermittlung zu verbessern
Gehen Sie beim oberösterreichischen MAN-Werk in Steyr davon aus, dass noch eine Lösung gefunden wird?
Ich bin optimistisch. Nur je stärker die Frage politisiert wird, desto größer ist die Gefahr, dass für irgendeinen Beteiligten der Sprung über den eigenen Schatten zu groß wird.
Große Verantwortung zu übernehmen, hat Wifo-Chef Christoph Badelt auch eindringlich von den Sozialpartnern eingemahnt, wenn ab Juli das geplante Kurzarbeitsmodell 5 weg von allgemeinen Lösungen oder Branchenmodellen hin zu Einzelfallentscheidungen geht. Könnte auf die nicht eine kaum zu bewältigende Antragsflut zurauschen?
Im Juli wird die Lage eine völlig andere sein als jetzt. Wenn Gastronomie und Hotellerie nachhaltig geöffnet sind, wird es viele Fälle nicht mehr geben. Wir arbeiten noch an jener Lösung mit den Sozialpartnern, die etwa der Stadthotellerie hilft oder der Großveranstaltungsbranche und der Luftfahrt. Idealerweise legen wir das Konzept im Mai vor, um Planungssicherheit zu geben. Die Frist zur Antragstellung wird wieder ausreichend bemessen sein. Grundsätzlich erwarte ich nicht zuletzt wegen der gut gelungenen Sicherung der Einkommen einen starken Aufschwung.
Haben Sie manchmal Angst vor einer vierten Infektionswelle?
Ausschließen kann es niemand, deshalb hoffe ich wirklich sehr auf die Impfungen, die das verhindern können. Denn das hätte natürlich Folgen für den Arbeitsmarkt. Wir müssen alles tun, damit das nicht passiert.
"Das Schlimmste ist, wenn wir in den Aufschwung kommen und bei hoher Arbeitslosigkeit gleichzeitig gravierenden Fachkräftemangel haben.“ Erkennen Sie das Zitat? Es ist von Ihnen. Nur, haben wir dieses Problem nicht längst?
Das ist das große Ziel, die Zweiteilung zu verhindern. Wir richten alle Maßnahmen danach aus und setzen Schwerpunkte da, wo Mangel herrscht. Leider passiert so eine Zweiteilung nach Rezessionen immer wieder. Durch den Strukturwandel sind wir noch mehr als nach der Finanzkrise gefordert, dem entgegenzuwirken.
Weil die Digitalisierung so beschleunigt worden ist?
Das spielt eine Rolle, aber wir haben auch eine etwas andere Demografie. Die geburtenstarken Jahrgänge werden bald in Pension gehen.
Wie gefällt Ihnen die Idee von Ökonom Gabriel Felbermayr, Ende des Sommers einen Kassasturz bezüglich aller Hilfen zu machen und entstandene Ungerechtigkeiten finanziell auszugleichen?
Da spricht nichts dagegen. Ich finde seine Vorschläge in der Regel gut.
Was glauben Sie, wie werden wir in zehn Jahren arbeiten?
Wir werden vielleicht nicht mehr so oft im Büro sein. Es wird viel flexiblere Formen von Arbeit geben. Ich erwarte aber nicht, dass wir ganz andere Arbeitsformen finden.
Jetzt wäre in Wien gerade die Zeit des Marathons gewesen. Hätten Sie - als passionierter Sportler - noch mitlaufen können?
Ich bin vom Vorjahr noch angemeldet. Der Marathon soll im Herbst stattfinden, aber ob ich mitlaufen kann, weiß ich nicht. Ich hoffe es. Ich habe einfach zu wenig Zeit zum Trainieren.
Claudia Haase