Wie sieht die (Wirtschafts-)Welt nach Corona aus? Wolfgang Schüssel (75), ÖVP-Bundeskanzler außer Dienst, hat sich zu diesem Thema jetzt zu Wort gemeldet und lässt aufhorchen.
Angesichts der "gigantischen Geldschöpfung" bei gleichzeitigen Nullzinsen könnte laut Schüssel "Inflation ein Thema werden".
Darüber hinaus beobachtet er, dass derzeit eine "fast naive Staatsgläubigkeit einsetzt": "Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass der Staat alles kann. Marktkräfte dürfen nicht nur geduldet sein", so Schüssel, der auf Einladung der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft Kärnten am Montag Gastredner in einem wirtschaftspolitischen Webinar zum Thema "In der Welt der Post-Corona-Gesellschaft" war.
Der Ex-Kanzler nimmt wahr, dass "wir auf dem Weg in eine Versicherungsgesellschaft sind. Wir wollen offenbar dorthin zurück, wo wir einmal waren. Aber life is risk. Unsicherheiten sollte man zulassen können, denn wir wissen vieles einfach nicht." Der Widerstreit der Ideen sei ein Vorteil für die Gesellschaft, davon lebe Demokratie. "Und eine gute Politik muss das ausbalancieren."
"Wie Tarzan von Liane zu Liane"
Nicht auszudenken, so Schüssel, wenn "der freie Handel eingeschränkt würde": "Wir leben vom freien Handel", sagt der Europa-Experte. Dass Europa abgehängt wird, glaubt er nicht. "Die EU wird auch in den nächsten Jahren zu den großen drei Wirtschaftsmächten gehören. Freilich muss sie kluge und nachhaltige Wachstumsstrategien entwickeln. Stichwort: Dekarbonisierung."
Reformbedarf sieht Schüssel im Gesundheitsweisen, in der Verwaltung, "und vielleicht braucht es auch neue Ansätze auf den Kapitalmärkten": "Österreich bzw. die EU müssen sich weiterhangeln wie Tarzan von Liane zu Liane".
Auch Ökonom Gottfried Haber, Vize-Gouverneur der Österreichischen Nationalbank, sieht "Inflationsimpulse" auf uns zukommen, wiewohl die "Finanzmärkte sehr resilient" seien: "Diesmal sind sie nicht Teil der Krise, sondern Teil der Lösung."
Haber rechnet mit Konjunkturaufschwüngen, "wir werden aber damit auch unsere Reserven auffüllen müssen". Will heißen: Die öffentlichen Finanzen müssen konsolidiert und stabilisiert werden. Haber: "Das wird die Konjunktur dämpfen."
Auch Philosophin Lisz Hirn, Trendforscher Harry Gatterer und der steirische Unternehmer Jürgen Roth, Vizepräsident der Wirtschaftskammer Österreich, entwickelten in dem von Uwe Sommersguter, Mitglied der Chefredaktion der Kleinen Zeitung, moderierten Webinar ihre Visionen von einer Gesellschaft und einem Wirtschaftssystem nach Corona. Hirn sieht derzeit eine Retrotopie, eine Retro-Sehnsucht also. "Man sehnt sich nach der guten alten Zeit. Aber das ist keine Bewegung, die sich in die Zukunft richtet, sondern in die Vergangenheit. Eine Gefahr", so Hirn, die dafür ist, "das kollektiv Gute mit dem individuell Guten zu verbinden".
"Das Wie-Früher existiert nicht mehr", meinen auch Gatterer und Roth, der Mut macht, "auch aus negativen Rückkoppelungen zu lernen. Auch daraus entsteht Innovation." Roth: "Sonst stehen Österreich bzw. Europa am Ende als Disneyland da - für internationale Touristen, die sehen möchten, wie es früher einmal war."