Eigentlich hätte ja alles ganz anders kommen sollen. Dass Dieter Zetsche, der Langzeitvorstandschef von Mercedes und Daimler, nach einer „Abkühlphase“ den Vorsitz des Aufsichtsrats von Deutschlands Industrie-Flaggschiff übernehmen würde, galt intern lange Zeit als gegessen.
Doch der Mann mit dem markanten Walross-Schnauzer hatte die Rechnung ohne einige gewichtige Aktionäre gemacht. Die Investoren warfen Zetsche vor, seinem Nachfolger Ola Källenius zu viele Baustellen überlassen zu haben, und sprachen sich im Vorfeld vehement gegen die Nominierung des ehemaligen Sterndeuters als obersten Aufseher des Stuttgarter Luxus-Autobauers aus. Fazit: Zetsche zog letzten September selbst die Konsequenzen und sagte vorzeitig ab.
Damit musste ein neuer Kandidat her. Zwar hätte sich auch durchaus Ex-Siemens-Boss Joe Kaeser gerne als Chef des Kontrollgremiums gesehen. Doch war klar, dass in der schwierigen Phase der Transformation an der Spitze ein erfahrener Mann stehen sollte, der das Automobilgeschäft von der Pike auf kennt und zugleich über einen scharfen Blick auf die großen Zukunftsthemen verfügt.
So soll morgen bei der virtuellen Hauptversammlung Bernd Pischetsrieder, seit 2014 Mitglied des Aufsichtsrates, als Nachfolger von Klaus Bischoff (79) vorgeschlagen werden. Seine Kür steht außer Frage. Pischetsrieder ist einer der profiliertesten und meistgeschätzten Automanager der letzten Jahrzehnte und genießt in der Daimler-Welt hohes Ansehen. Zudem zieht der Oberbayer als strategischer Kopf schon lange die Fäden im Hintergrund. Die Inthronisierung von Källenius trug seine Handschrift.
Somit verschiebt der 73-jährige Sir der Autowelt die Pension nach hinten und überwacht in den nächsten fünf Jahren einen Konzern, der weltweit 400.000 Menschen beschäftigt, im Vorjahr 2,84 Millionen Fahrzeuge verkaufte und bei einem Umsatz von 154,3 Milliarden Euro einen Nettogewinn von sechs Milliarden Euro erwirtschaftete.
Das Hochamt beim Erfinder des Automobils krönt die Karriere des studierten Maschinenbauers. Sein Lebenslauf ist einzigartig in der Autoindustrie, war Pischetsrieder doch zuvor Vorstandschef von BMW (1993 bis 1999) und Volkswagen (2002 bis 2006). Beide Male musste er allerdings seinen Posten vorzeitig räumen: Bei BMW setzte er Meilensteine, stolperte aber über die Übernahme von Rover. Bei Volkswagen stand er dem damaligen Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch im Weg, der Martin Winterkorn wollte. Ein schwerwiegender Fehler: Im Zuge des Dieselskandals überwarf sich Piëch mit Winterkorn, am Ende mussten beide gehen. Mit Pischetsrieder wäre der Betrug nicht passiert, sagt man heute noch in Wolfsburg.
In den nächsten Jahren wird Pischetsrieder, der am Chiemsee lebt und Wohnsitze am Arlberg und in der Steiermark hat, wohl viel Zeit in Stuttgart verbringen. Dass er allerdings dabei seine Lieblingsgegend vernachlässigen wird, ist kaum anzunehmen: Die Südsteiermark hat es dem passionierten Zigarrenraucher angetan, das prachtvolle Anwesen an der Weinstraße ist das Refugium seiner Familie. Und beim Wein kennt sich Pischetsrieder auch ziemlich gut aus. Seit 20 Jahren ist er Stammgast bei der Kleine-Zeitung- Weinkost am Pogusch. Das Weinmachen überlässt er allerdings seinem Freund, dem Top-Winzer Willi Sattler, der Pischetsrieders 1,2 Hektar große Parzelle in der Lage Hochgrassnitzberg bewirtschaftet. Der edle Tropfen, den Pischetsrieder den Namen Grassnitzburg gab, hält freilich mit den besten steirischen Sauvignons mit. Da hält es der qualitätsversessene Pischetsrieder ganz mit dem Mercedes-Markenclaim: „Das Beste oder nichts.“
Gerhard Nöhrer