Gemetzel, Schock, Massaker, Absturz – spätestens ab 9. März musste das gesamte Repertoire an Crash-Vokabular herhalten, um zu beschreiben, was sich da an den globalen Aktienmärkten abspielt. Als deutlich wurde, wie stark sich die Corona-Pandemie in so gut wie alle Teile der Wirtschaft hineinfräst, dass eine globale Rezession bevorsteht und auch in Europa Lockdowns notwendig werden, gab es zunächst kein Halten mehr. Die Kurse stürzten in beispiellosem Tempo nach unten. Zwischen 18. Februar und 17. März hat sich der Wiener Leitindex ATX halbiert. Drei der historisch fünf verlustreichsten Tage der gesamten ATX-Historie (seit 1991) entfallen auf die erste März-Hälfte dieses Jahres, am 12. März wurde mit 13,65 Prozent das bis dato höchste Tagesminus überhaupt verbucht.
„2020 hat mich gelehrt, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts unmöglich ist“, betont der Finanzmarktexperte Josef Obergantschnig (hier geht's zu seinem Logbuch eines Börsianers). „Binnen weniger Tage verloren die Weltbörsen mehr als ein Drittel ihres Wertes, wir haben eine der wildesten Dellen und dann eine der größten Korrekturen der Börsengeschichte gesehen.“ Denn auch die – freilich immer wieder von temporären Rückschlägen begleiteten – Erholungsbewegungen, die ab dem Jahrestiefpunkt Mitte März – der ATX war zeitweise auf 1622 Punkte abgestürzt – einsetzten, verdienen das Prädikat „bemerkenswert“. Der Jahresverlust konnte zwar nicht gänzlich ausgebügelt werden, am letzten Handelstag des Jahres lag der ATX bei 2780,44 Punkten – ein Minus von zwölf Prozent.
Andere globale Aktienindizes, etwa in New York, Tokio oder Frankfurt, konnten sich in die Gewinnzone zurückarbeiten und zuletzt teils sogar neue Allzeitrekorde verbuchen.
"Notenbanken feuerten aus allen Rohren"
Das Kursfeuerwerk, das an vielen Finanzmärkten gezündet wurde, hatte seinen Ursprung jedoch nicht in der realwirtschaftlichen Entwicklung, denn die westlichen Volkswirtschaften durchleben die stärkste Rezession der Nachkriegsgeschichte. Für den gewaltigen Rückenwind an den Börsen sorgte vielmehr ein Mix aus Stimulationen – „insbesondere die Notenbanken feuerten aus allen Rohren“, so Obergantschnig. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider. „Die Bilanzsumme der vier größten Notenbanken der Welt erhöhte sich innerhalb eines Jahres von 16,5 Billionen US-Dollar um mehr als 50 Prozent auf unglaubliche 25 Billionen US-Dollar. Die Notenbanken überschwemmten die Märkte mit Liquidität und stützten damit die Kurse.“
Billionenschwere Rettungspakete
Hinzu kommen die umfassenden staatlichen Hilfsprogramme, „in Summe wurden global bereits mehr als zehn Billionen US-Dollar in Rettungspakete verabschiedet“, so Obergantschnig. Die bereits lange vor der Coronakrise aufgekommene Null- und Negativzinspolitik der Notenbanken wurde heuer gewissermaßen einzementiert. Für Anleger ist es daher schlicht eine Frage der Alternativen – wer Rendite will oder zumindest einen realen Geldwerterhalt sicherstellen will, kommt um Aktieninvestments de facto nicht mehr herum.
Das zeigt sich auch in Österreich, das gemeinhin nicht als Land der Wertpapieranleger gilt. Die Oesterreichische Nationalbank vermeldete etwa, dass Österreichs Haushalte im ersten Halbjahr 2020 angesichts der damals günstigeren Einstiegskurse Aktien im Ausmaß von 1,6 Milliarden Euro gekauft haben. „Börsennotierte Aktien sind beliebter geworden – vor allem nach dem Börsencrash im März“, betonte Nationalbank-Vizegouverneur Gottfried Haber Mitte November.
Für die finalen Impulse im Jahresendspurt sorgten schließlich die Last-minute-Einigung auf einen Handelspakt zwischen der EU und Großbritannien sowie das gigantische, 900 Milliarden US-Dollar schwere US-Konjunkturpaket.
"Sehr viel Optimismus ist schon eingepreist"
Wie aber geht es im neuen Jahr weiter? Obergantschnig: „Für 2021 scheint alles angerichtet zu sein. Die Notenbanken und die Politik bleiben im Dauerfeuermodus. Mit einer baldigen Kursänderung rechnen mittlerweile nicht einmal mehr die kühnsten Pessimisten.“ Die Rückschlagsgefahr ist dennoch nicht zu unterschätzen. Zum einen sind viele Aktientitel mittlerweile nicht mehr günstig bewertet, andererseits „ist auch schon sehr viel Optimismus an den Aktienmärkten eingepreist“, so Obergantschnig. An den Börsen werde also fix davon ausgegangen, dass die Impfungen die Corona-Pandemie relativ rasch beenden und ein entsprechend rasantes Wirtschaftswachstum einsetzt. Auch die enorm steigenden Staatsverschuldungen dürfe man nicht aus dem Blick verlieren. „Sollten sich die teils schon fast euphorischen Erwartungen nicht erfüllen und es im Kampf gegen das Virus doch zu Rückschlägen kommen, könnte das schnell zu entsprechenden Korrekturen nach unten führen.“
Ein Trend hat sich in diesem Jahr, getrieben von Corona mit den Begleiterscheinungen wie u. a. Homeoffice, Videokonferenzen, E-Commerce oder Distance Learning – noch einmal beschleunigt: Sieben der zehn höchstbewerteten Unternehmen weltweit kommen aus dem Technologiesektor, vier von ihnen erreichen einen Billionenmarktwert. Neben Apple sind das Microsoft (1,7 Billionen Dollar), Amazon (1,67 Billionen) und die Google-Mutter Alphabet (1,19 Billionen).