Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Supermarkt und wollen sich eine Tafel Schokolade gönnen. Welche würden Sie nehmen? Welche Marke? Welche Sorte? Warum die? Weil sie billiger ist? Weil sie besser aussieht? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie zu jener Tafel greifen, die sie schon sehr oft gekauft haben. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und nur die wenigsten nehmen sich Zeit, um einen neuen Favoriten auszuwählen. Gerade jetzt beim Einkaufen mit Maske und noch dazu bei der Auswahl.
Über 100 verschiedene Tafeln führt ein heimischer Supermarkt-Riese in seinem aktuellen Süßwaren-Portfolio, die meisten davon in Lila. Neuheiten von kleineren oder nicht etablierten Herstellern haben es da schwer. Selbst wenn ihr Produkt es ins Supermarktregal schafft, ist die Gefahr groß, dass es sich dort nicht behaupten kann. Manche nehmen daher einen Umweg und landen in einem Geschäftslokal im sechsten Wiener Gemeindebezirk.
“Wir sehen die Produkte mit den Augen ihrer Konsumenten”, hat sich Thomas Perdolt auf sein Shirt gedruckt. Nach 20 Jahren als Geschäftsführer im Weekend-Verlag und einer mehrjährigen Testphase hat er sein Hobby zum Beruf gemacht und Mitte Oktober den Real-Life-Marktforschungs-Supermarkt “go2market” in der Liniengasse eröffnet.
9.000 Personen auf der Warteliste
1.500 registrierte Nutzer*innen können dort gegen eine monatliche Gebühr ab 12,90 Euro im Gegenwert von 55 Euro Produktneuheiten einkaufen. Zudem gibt man Daten wie Haushaltseinkommen, Ausbildung und Familienstand preis, beantwortet grundsätzliche Fragen zum eigenen Einkaufsverhalten und nimmt freiwillig an Umfragen zu den erworbenen Produkten teil.
Wer zu den 1.500 Einkäufer*innen zählt, entscheidet das Team von “go2market” anhand der erhobenen soziodemografischen und sozioökonomischen Informationen. Um den Partnern aus der Industrie noch präzisere Auskünfte über seine potenziellen Kund*innen liefern zu können, arbeitet das Unternehmen seit kurzem auch mit einem Profiler zusammen. “Mit unserem System kann genau festgestellt werden, wer zu welcher Kernzielgruppe gehört und wie sie agiert”, sagt Perdolt.
Das Interesse der Wiener*innen am Zugang zu neuen Produkten ist groß. Über 9.000 Personen befinden sich derzeit auf der Warteliste. Wird ein Platz im Kreis der Auserwählten frei, werden jene per E-Mail benachrichtigt, die in die benötigte Zielgruppe passen. Wer darauf am schnellsten reagiert, schließt ein Abo ab, lädt sich die dazugehörige App herunter und kann seinen ersten Einkauf beginnen.
"Du bezahlst mit deinen Daten, aber..."
Dass so viele Menschen freiwillig ihre Daten hergeben wollen, überrascht Perdolt nicht: “Weil wir sehr offen mit dem Thema umgehen. Ja, du bezahlst hier mit deinen Daten, aber es geht nie um dich als Person. Wir machen eine reine Zielgruppenanalyse und stellen die Daten der Industrie anonymisiert zur Verfügung. Der ist nämlich egal, ob du der Maier Michl oder der Huber Sepp bist. Du bist 27 Jahre, männlich und hast das Produkt gekauft. Darum geht es.” Personenbezogene Daten würden daher auch nicht an Dritte weitergegeben, versichert er.
Anstatt ihr Geld in Fokusgruppen zu investieren oder mittels Tests auf der Straße ein Produkt auf seine Markttauglichkeit zu überprüfen, schicken immer mehr internationale Konzerne wie Nestlé, Unilever oder Procter & Gamble ihre Getränke, Kekse, Kaffeepads oder Katzenfutterdosen in den Probebetrieb nach Mariahilf. Derzeit umfasst das Sortiment 160 Artikel, nächstes Monat werden es über 200 sein.
Mithilfe eines Investments in Millionenhöhe strebt “go2market” Anfang nächsten Jahres die Expansion nach Deutschland an, wo in Berlin ein zweiter Marktforschungs-Supermarkt eröffnen soll. Der Standort in Österreich soll dadurch aber nicht vernachlässigt werden. Thomas Perdolt sieht es sportlich: “Es ist ein bisschen wie beim Fußball. Der Markt in Wien ist wie eine Art Akademie. Alles, was es in Zukunft geben wird, soll als Erstes hier getestet werden.”
Andreas Terler