Sie sagen, dass die Menschen ein starkes Europa wollen, dennoch gewinnen populistische, nationalistische Politiker Wahlen. Wie kommen Sie darauf?
ULRIKE GUÉROT: Wenn ich sage, dass die meisten Leute für Europa sind, dann sage ich ja nicht, dass sie für die EU in ihren bestehenden Strukturen sind. Als im April die Universität Oxford gefragt hat, ob die Menschen ein europäisches Grundeinkommen wollen, sagten 72 Prozent ja. Zwei Drittel wollen eine europäische Arbeitslosenversicherung. Es gibt die Sehnsucht nach einem anderen, sozialen und demokratischen Europa. Aber dieses Europa ist nicht da, nicht in diesen Konturen.
Das spiegelt sich in den Nationalstaaten nicht wider.
Wir haben eine große Krise der Repräsentation in Europa. Viele Dinge, die sich viele europäische Bürger im Herzen wünschen, finden in den derzeitigen nationalstaatlich aufgebauten Strukturen der EU nicht statt.
Ist die EU reformierbar?
Die schnelle Antwort wäre nein. Ich werde ja oft als glühende Europäerin vorgestellt. Nein, ich glühe überhaupt nicht, ich bin da sehr nüchtern. Die intelligentere Frage wäre wohl, kommen wir in ein anderes Europa auf einem anderen Weg? Die deutsche Wiedervereinigung ist ja nicht entstanden, weil Kohl und Honecker einen Vertrag gemacht haben.
Sondern, weil sie die Basis wollte.
Schauen Sie sich im Internet Hashtags wie #CTOE – Cititzens takeover Europe – an. Das sind 56 zivilgesellschaftliche Organisationen, die schreiben schon die europäische Verfassung. Es tut sich viel in der Zivilgesellschaft. Wer soll denn Europa reformieren? Der Rat? Frau Von der Leyen? Oder die Bürger? Wenn Sie die Frage etwas öffnen, haben wir vielleicht eine Chance.
Europa absolviert in diesem Coronajahr eine Achterbahnfahrt. Grenzschließungen, gesperrte Hilfslieferungen, dann die 750 Milliarden schwere Hilfe in einem Akt der Solidarität. Und nun gehen wieder Grenzen zu. Wo geht die Reise für Europa hin?
Ich habe keine Kristallkugel. Aber ich bin besorgt. Ich finde die Differenz zwischen Europa, das die ganze Pandemie bezahlt, und den Nationalstaaten, die wieder alles allein machen wollen, schrecklich. Wir kriegen das Ganze nicht europäisiert. Die Tatsache, dass das Corona-Krisenmanagement nicht europäisch funktioniert, ist ein Armutszeugnis.
Wir sehen das Ergebnis der tiefen Kluft zwischen denjenigen, die ein gemeinsames Europa wollen und denjenigen, die populistische Politiker wählen?
Würde man 500 Millionen Europäer darüber abstimmen lassen, was machen wir mit Moria, was machen wir mit der europäischen Arbeitslosenversicherung oder dem Grundeinkommen – dann hätten wir überragende europäische Mehrheiten. Aber so fragen wir ja nicht. Wir bekämen andere Ergebnisse, wenn wir die europäischen Bürgerinnen in ihrer Totalität befragen würden.
Sie sagen, wir brauchen keine Nationalstaaten mehr. Ist es ansatzweise realistisch ist, dass sich diese selbst abschaffen?
Als ich geboren wurde, gab es Jugoslawien, heute sind es fünf Nationalstaaten. Ein Staat wird abgeschafft, andere wurden gegründet. Was ist eine Nation? China, Russland, die USA, auch Indien sind multinationale Einheiten. Wir hatten unitaristische Prozesse in der Geschichte, als sich Hessen, Pfälzer und Rheinländer in der deutschen Nation wiederfanden und Toskaner, Venezianer und Sizilianer in der italienischen. Während Österreich dekonstruiert wurde in jede Menge kleine Völker. Wer am Ende in einer Staatlichkeit ist, hat mit Nation und Identität nichts zu tun.
Womit dann?
Der französische Soziologe Marcel Mauss sagte mal, Nation sind diejenigen, die soziale Fragen gemeinsam entscheiden. Wenn wir morgen in Europa sagen, von Athen bis Dublin bekommt jeder das gleiche Arbeitslosengeld, wären wir eine europäische Nation, unabhängig von Sprache und Identität. Auch Bretonen und Korsen verstehen sich nicht, haben eine andere Identität – und sind dennoch Bürger der französischen Republik – und warum? Weil sie am Ende des Tages den gleichen Mindestlohn bekommen.
Sie wollen in Ihrem neuen Buch Lust auf Europa machen und sehen dabei Corona als Initialzündung. Wie kann etwas, das so viel Leid bringt, ein Katalysator für etwas Positives sein?
Krisen waren immer das Lebenselixier der europäischen Geschichte, weil wir Dinge solidarisch vergemeinschaftet haben, wo sie uns gefehlt hat. Das war stets die europäische Weisheit, 60 Jahre lang. Seit der Bankenkrise ist aber jede Krise Vorwand für Renationalisierung. Haben wir jetzt nach einer Krisendekade, die uns allen nicht gutgetan hat, verstanden, dass Krisen dazu da sind, dass wir vergemeinschaften müssen? Ich würde mir wünschen ja.
Wenn wir es nicht verstehen?
Dann kommt der Brexit, der wird unschön. Dann schauen wir zu, wenn Trump wiedergewählt wird, Italien und Frankreich wählt, wo Marine Le Pen durchaus Chancen hat, Präsidentin zu werden.
Dann zerbricht die EU – oder wurstelt weiter?
Vieles hängt am Euro. Frau Merkel sagt: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Frau Merkel hat Unrecht. Denn bleibt der Euro wie er ist, mit seinen Dysfunktionalitäten, scheitert die europäische Demokratie. Behalten wir den Euro um jeden Preis, wird es hier autoritär, es riecht ja schon. Der ganze Protofaschismus in Europa stinkt schon nach faulen Eiern. Es gibt zwei Möglichkeiten ein Gemeinwesen und damit eine Währung zusammenzuhalten: Mit Solidarität – oder mit Gewalt. Aber der Euro wird nicht geopfert, das Kapital hängt viel zu sehr am Euro.
Wie der Euro gestrickt ist, schadet er Europa mehr als er nutzt?
Ja, das steht seit 20 Jahren in den sozialwissenschaftlichen Literaturen, hat sich aber nicht herumgesprochen, weil die Politik immer auf die Wirtschaftswissenschafter hört. Wenn ich den Preis für die Fiskal- und Sozialunion nicht bezahle, dann zahle ich eben einen anderen Preis: There is no free lunch.
Wie sehr hat Corona Regierungen und Bürger voneinander entfremdet?
Wir haben bestimmte Meinungen an den Rand gedrängt. Alternativlos ist immer unklug. In dem Moment, als wir von „Covidioten“ gesprochen haben, hatte das eine Erosion der Demokratie zur Folge. Wir wissen vom Hofnarren, dass aus dem dümmsten Mund ein kluges Wort kommen kann. Die Mehrheit, die sich für vernünftig erklärt, ist selbstgerecht gewesen. Das hat ein Ressentiment in der Bevölkerung hinterlassen, das sich Luft macht.
Dass immer öfter Fakten ignoriert werden, ist wohl auch ein Problem für die Demokratie?
Wissenschaft hat keinen Absolutheitsanspruch. Es gibt 6000 Studien zum Thema Kaffee, von ist ganz gut bis ist ganz schlecht für Sie. Welcher Studie Sie glauben hat zentral damit zu tun, ob Sie Kaffee mögen oder nicht. Wir tun so, als ob es die eine Wahrheit gibt, die gibt es natürlich nicht. Dass Herr Trump das verstanden hat und wir nicht, ist das eigentliche Problem. Wenn wir also glauben, dass wir mit Fakten Meinungen bewegen, dann haben wir uns vertan. Politik bedeutet, die Dinge trotzdem zu machen.